„Kritische Masse“ von Sara Paretsky

Tough, mit gesellschaftlicher Relevanz

Eigentlich soll V. I. Warshawski für ihre Freundin Lottie nach einer untergetauchten Drogensüchtigen suchen. Stattdessen stolpert sie in der brüllend heißen Prärie über einen erschossenen Hund und dann auch noch über einen ebenfalls ermordeten Drogenkocher und muss sich in der Folge mit Provinzcops und allerhand anderem Gesocks rumschlagen. Der kleine Ausflug aufs Land ist so gar nichts für die toughe Großstadtdetektivin aus Chicago.

Klingt alles ein bisschen nach 08/15-Krimi, wäre bei „Kritische Masse“ nicht ein Prolog im Wien von 1913 angelegt und wäre die Autorin nicht Sara Paretsky. Die hatte die Nase voll von Krimis, in denen Frauen entweder abgrundtief böse Mörderinnen oder hilflose Fräuleins sind, und schuf Anfang der 1980er Jahre mit V. I. Warshawski (Vic für ihre Freunde) eine ebenso starke wie liebenswürdige Detektivin, die mit „Kritische Masse“ bereits ihren 17. Fall durchlebt. Und der hat es in sich.

Nicht nur die Drogensüchtige Judy Binder ist verschwunden, sondern auch ihr Sohn Martin – bei seiner Großmutter aufgewachsen und überaus intelligent, besucht er keine Universität, sondern arbeitete bis zu seinem plötzlichen Verschwinden bei einer Computerfirma. Die arbeitet nicht nur an immer neuen Produkten, mit denen Menschen zum Geldausgeben animiert werden können, sondern auch an Computerprogrammen, die das US-Militär nutzen könnte. Doch deswegen scheint Martin nicht verschwunden zu sein. Als V. I. Warshawski sich aufmacht, den Jungen zu finden, weiß sie noch nicht, wie mächtig die Gegner sind, gegen die sie antritt, und was sie bereit sind zu tun, um ihr größtes Geheimnis zu schützen.

Auch in „Kritische Masse“, jetzt bei Ariadne als Taschenbuch erschienen, bleibt sich Sara Paretsky treu: Es ist ein Krimi nah an der Realität, mit gesellschaftspolitischer Relevanz. Mit der Geschichte um den verschwundenen Martin und seine Familie führt uns die Autorin ins Wien des 20. Jahrhunderts, als naturwissenschaftliche Forschungsstellen für Frauen Mangelware waren, in den Schrecken des Wiener Gettos und bis an die Türen der Züge, in denen die Faschisten Juden zu ihrer Ermordung transportierten.

Schnell steht man mittendrin im Wettlauf um die Weiterentwicklung der Atombombe, bei dem die USA keine Skrupel hatten, auf Nazi-Wissenschaftler zur setzen, die schwerste Verbrechen begangen hatten. Wenn sie erwähnt hätte, dass die Skrupellosigkeit so weit ging, Atombomben auch tatsächlich einzusetzen, hätte ich ihr die überflüssigen Seitenhiebe gegen die Sowjetunion leichter verziehen. Die beeinträchtigen allerdings das Lesevergnügen nicht sonderlich.

Ganz nebenbei geht es in „Kritische Masse“ um Quantenphysik und die Erfindung des Computers, stellenweise muss Paretsky erleichtert gewesen sein, ihrer Heldin ein „Ich verstehe davon ja nichts“ in den Mund legen zu können.
In ihrem Nachwort verrät die Autorin, dass Martina Saginor, die Großmutter des verschwundenen Martin, zwar reine Fiktion ist, sie aber von der Geschichte der österreichischen Physikerin Marietta Blau inspiriert war. Erwin Schrödinger (Nobelpreis für Physik 1933, der mit der Katze) hatte sie für ihre Arbeiten immer wieder für den Nobelpreis nominiert, Einstein bemühte sich, ihr eine Stelle an einer US-amerikanischen Universität zu beschaffen, was nicht gelang. In letzter Minute bekam sie durch ihn eine Anstellung an einer Schule in Mexiko. Sie starb unbekannt in Österreich. Forschungen auf dem Feld der Physik hatte sie nie wieder vorgelegt.

Auch deswegen freut man sich, wenn V. I. Warshawsky wenigstens der fiktiven Martina Saginor posthum zu ihrem Recht verhelfen kann – und dass sie auch noch 40 Jahre nach ihrem ersten Auftritt den miesen Typen vom Heimatschutz mitten ins Gesicht boxen kann.

Sara Paretsky
Kritische Masse
Ariadne Verlag, Taschenbuch, 539 Seiten, 18 Euro
Erhältlich im UZ-Shop

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"Tough, mit gesellschaftlicher Relevanz", UZ vom 9. Juni 2023



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