Bov Bjergs Roman „Der Vorweiner“ als Zerrspiegel der Dienstleisungsgesellschaft

Tränen nach der Sintflut

Erwiesenermaßen sind auch die Schatten von Zwergen gegen Sonnenuntergang recht lang, was eben nicht dazu führt, dass man von ihren Schultern aus weiter blicken könnte, je mickriger die Zeiten sind. Das ist das Problem der Satire: Man will Missstände auf jenem Terrain bekämpfen, auf dem ebendiese gedeihen. Bov Bjerg wagt mit seinem neuen Roman „Der Vorweiner“ die Herausstellung jener Merkmale der Satire, indem er die westliche Welt weitgehend absaufen und einzig Deutschland übriglässt. Das heißt dann konsequenterweise auch „Resteuropa“ und ist Schuld am Untergang des Abendlandes, hat es sich doch gegen den steigenden Meeresspiegel mit Beton aufgebockt, dessen Last wiederum allen anderen europäischen Ländern zum Verhängnis wurde. Staaten wie die Niederlande existieren nur noch in Floßform. Wer in den Auffanglagern Resteuropas landet, hofft auf Verteilung: Als Vorweiner ist man dafür zuständig, beim Akt der „Zerstreuung“, also dem Auskippen der Asche eines Toten, die Emotionen zu zeigen, die sich die wohlhabenden Resteuropäer als unsittlich verkneifen, für ihren reproduktiven Ablasshandel aber brauchen, weil sie eben auch lebend zerstreut werden wollen. Weinen wie Lachen sind Dinge von Migranten und der sogenannten Niederschicht, jener, die in Knickerbockern und in schrillen Farben bei Lieferservices angestellt sind und Pizza Hawaii austragen.

Die absolute Dienstleistungsgesellschaft ist längst über den Rand gekippt, verfeuert Müll und, wer es sich leisten kann, zahlt als Belustigung dafür, arbeiten zu dürfen, Fugen in Fensterrahmen zu ziehen, Schweine eigenhändig zu schlachten oder erbsengroße Kartoffeln zu ernten.

Der Widerstand gegen die Zustände geht nicht weit, die Niederschicht auf der Straße protestiert lediglich für ihre eigene Ausbeutung und verlangt Protektionismus; statt der abgesoffenen Ausländer wollen sie selbst als Vorweiner angeheuert werden. Parteigewordener Ausdruck ist dementsprechend die „Sozialnationale Partei Resteuropas“, deren Vorsitzende Bärbel Wagenweidel im Namen zweierlei so systemrelevante wie -konforme Oppositionen von links wie rechts vereint und die sich in den Tod stürzt, nachdem herauskommt, dass sie einen Portugiesen als ihren Vorweiner führt: „Politische Gegner zollten ihrer Entscheidung Respekt. Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der fallenden Politikerin nicht vorenthalten.“

Mit solcherlei die Wahrheit höchstens touchierenden Nachrichten verdient B. wie Berta als „gern gebuchte Klickbeuterin“ ihren Unterhalt und die Miete in einem Kellerloch, fernab von ihrer Mutter A. wie Anna, die Berta mehr oder minder aus dem Haus geschmissen hat, damit Anna Raum hat, um ihre Beziehung zum spät erworbenen niederländischen Vorweiner Jan aufzubauen; schließlich können nur durch soziale Bindung aus Krokodils- echte Tränen werden, sei es auch auf Kosten anderer sozialer Bindungen. Dass den Kapiteln Inhaltswarnungen vorangeschossen werden und in Bertas Ergüssen gleichsam gegendert und obszön menschliches Leid ausgestellt wird, verweist in Summe auf den Rahmen des Liberalismus.

In dem wird auch vollumfänglich gedacht: Kein Weg führt aus der Misere. Auch der Prolet Pizzapete frotzelt zwar einerseits gegen die Demonstrierenden seiner Klasse („Diese schwachsinnigen Vorweinerneider schreien doch immer das Gleiche.“), selbst aber ist er für Frontex-Nachfolgeunternehmen willfähriger Gehilfe („Wir brauchen nicht noch mehr von denen.“). All das ist Ergebnis von Beobachtungen und kommt nicht von irgendwo. Frivoles liest, sieht und erlebt man hierzulande in nicht minderem Maße tagtäglich. Der Gegenwart hält Bov Bjerg mit „Der Vorweiner“ den Zerrspiegel vor und niemand braucht sich zu wundern, dass man darin keine Utopie erspähen kann, sondern nur Allzuoffensichtliches. Über die strengen Grenzen der Satire und damit der des waltenden Systems geht der Roman nicht hinaus, wodurch er wiederum in das eingeordnet werden muss, was mit ihm karikiert sein will: „Der Vorweiner“ ist eine Dienstleistung und als zerstreuende Satire eine gelungene. Sollte sie aber als Science Fiction oder allgemein als Literatur, die über das Gegebene hinausschaut, gemeint sein, man müsste sie reklamieren.

Bov Bjerg
Der Vorweiner
Claassen Verlag, 240 Seiten, 24 Euro

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"Tränen nach der Sintflut", UZ vom 13. Oktober 2023



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