Nach Beschluss zum Genozid in Gaza attackieren führende Vertreter der „Linken“ den eigenen Jugendverband

Unerhört politisch

Eigentlich könnten die Rechten in der Partei „Die Linke“ zufrieden sein. Gute Wahlergebnisse und eine wachsende parlamentarische Verankerung stärken das Reformerlager. In der Friedensfrage geben sich Spitzenleute wie Jan van Aken gemäßigt, sparen mit Kritik an der NATO und geißeln regelmäßig den „russischen Imperialismus“. Brandmauer sei Dank hat die Bundestagsfraktion sogar Friedrich Merz (CDU) einen schnelleren Einstieg ins Kanzleramt ermöglicht und streckt regelmäßig die Fühler aus, um die Union zu einer – wenigstens formalen – Zusammenarbeit zu bewegen. Man könnte also meinen, dass es läuft für die Ramelows, Paus und Gysis dieser Welt. Aber weit gefehlt.

In der vergangenen Woche holte das rechte Partei-Establishment zum großen Schlag gegen den eigenen Jugendverband aus. Anlass für die Kampagne gegen die Linksjugend „solid“ war ein auf dem Bundeskongress mit großer Mehrheit (rund 70 Prozent) gefasster Beschluss mit dem Titel „Nie wieder zu einem Völkermord schweigen“. Darin übt der Verband Selbstkritik: „Konfrontiert mit einem Völkermord, haben wir als linker Jugendverband versagt.“ Man habe den „kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts“ nicht anerkannt und es verpasst, die „Verbrechen des israelischen Staates, vom Apartheidsystem bis zum Genozid in Gaza, unmissverständlich beim Namen zu nennen und zu verurteilen“. Auch die Linkspartei wird aufgefordert, ihre Haltung zu hinterfragen.

Ende September hatte Parteichefin Ines Schwerdtner auf der großen Demonstration „All Eyes on Gaza“ in Berlin noch in eine ähnliche Kerbe geschlagen: „Wir stehen hier für die gesamte Partei, weil wir sagen: Wir haben zu lange geschwiegen, ich habe zu lange geschwiegen, es ist ein Genozid.“ Von diesen eher nachdenklichen Tönen im Namen der „gesamten Partei“ war nach dem „solid“-Bundeskongress nichts mehr zu hören.

Der bürgerliche Medienapparat überschlug sich mit Geschrei von vermeintlichem „linken Antisemitismus“. Auch Ron Prosor, Botschafter der rechtsextremen israelischen Regierung, stieg persönlich ein. Die Linkspartei habe „ihren moralischen Kompass, ihre Vernunft und ihre Integrität verloren“, erklärte er auf der Plattform „Instagram“. „Linksjugend bedroht alle, die NICHT Israel hassen“, griff die „Bild“-Zeitung Erzählungen auf, wonach Delegationen des Jugendverbandes den Kongress aus Furcht um ihre Sicherheit vorzeitig verlassen hätten. Aus Kreisen der Delegierten erfuhr UZ, dass die Abreise von Vertretern des rechten Flügels ein absehbarer Versuch gewesen sei, den Kongress zu sabotieren. Schon zuvor war von der in allen Abstimmungen unterlegenen Minderheit versucht worden, Debatten zu verzögern und Beschlüsse zu verhindern. Inhaltliche Niederlagen zur persönlichen „Bedrohungslage“ aufzubauschen hat im rechten Flügel der „Linken“ eine gewisse Tradition.

Das Niveau der „Bild“ problemlos unterschreitend, widmete sich die „taz“ dem Thema. „Verwenden hier geistig verwirrte Linke stalinistische Methoden der Feindmarkierung und Verfolgung?“, fragte sich Kolumnistin Erica Zingher und demonstrierte den intellektuellen Anspruch ihrer politischen Analyse, als sie die „solid“-Mitglieder scharfsinnig als „Gaga-Linke“ bezeichnete.

Wo so viel Hass und Stumpfsinn herrschen, sind die eigenen Parteimitglieder nicht weit. Nicht nur, weil sich die Berichterstattung in großen Teilen auf offensichtlich durchgestochene Informationen und Behauptungen stützte. Gleich 17 Bundestagsabgeordnete, darunter die selbsternannten „Silberlocken“ Gregor Gysi und Bodo Ramelow, verschickten einen „Brandbrief“. „Offenbar ist in unserer Partei etwas ins Rutschen gekommen“, gaben sie sich besorgt. Der Beschluss des Jugendverbandes bewege sich „außerhalb des Konsenses unserer Partei“. Auch die unvermeidliche Petra Pau tauchte kurz aus der Versenkung auf, um bedeutungsschwanger mitzuteilen, dass ihre Partei „vor einer prinzipiellen Entscheidung“ stehe.

Der Parteivorstand reagierte mit einer Sondersitzung am vergangenen Mittwoch, um den Jugendverband für seine unverschämten Beschlüsse zu geißeln. Tags darauf erklärten Ines Schwerdtner und Jan van Aken, im Parteivorstand herrsche „eine sehr breite Einigkeit darüber, dass der verabschiedete Antrag inhaltlich nicht mit den Positionen der Linken vereinbar ist“. Wer die „gesellschaftlichen Realitäten in Gaza und Israel wie auch in unserem Land“ ausblende, verliere „jede Anschlussfähigkeit“, so die beiden Vorsitzenden. Fragt sich nur: anschlussfähig, für wen?

Die gleich mitgelieferten Aufrufe zur „Geschlossenheit“ deuten an, dass hinter der Auseinandersetzung mehr steckt als die Enttäuschung des Pro-Israel-Lagers, das seine Mehrheit im Jugendverband verloren hat. Auch in anderen Fragen tobt angesichts zehntausender neuer Parteimitglieder ein Kampf um die Köpfe und die Ausrichtung der Partei. Und auf vielen umstrittenen Feldern schickt sich die neue Mehrheit in der Linksjugend an, ihrer Partei inhaltliche Debatten aufzuzwingen, die dort nicht gerne gesehen sind. Denn wo früher mehrheitlich Angepasstheit und Scheinradikalität herrschten, wurden auf diesem Bundeskongress politische Beschlüsse gefasst.

Klar positioniert sich der Jugendverband gegen Wehrpflicht und Hochrüstung. Widerstand gegen Repressionen und Klassenjustiz werden angekündigt, Kriegsgefahr und Weltlage auf einer Ebene diskutiert, die der Partei deutlich voraus ist: „Unser Ziel ist die Überwindung imperialistischer Abhängigkeiten und die Stärkung einer multipolaren Weltordnung. Besonders unterstützen wir die Selbstbestimmungsrechte der Völker, die sich gegen ausbeuterische Strukturen und für Sozialismus einsetzen“, heißt es im beschlossenen Leitantrag. Selbst in dieser Unkonkretheit eine unerhörte Einschätzung für diejenigen, die gerne NATO-Narrative weitererzählen.

Die Kampagne gegen die Linksjugend entspringt dem Beißreflex einer verunsicherten (Noch-)Mehrheit in der Partei. Es ist ein Rückfall in die Zeiten, in denen Parteirechte ihren Anbiederungskurs an das Bürgertum mit öffentlichen Angriffen auf die eigenen Genossen durchdrücken wollten – schon damals eifrig unterstützt von einer Parteiführung, die gerne zur „Geschlossenheit“ aufrief. Ob der nun erzeugte Druck Wirkung zeigt und wohin die Linksjugend am Ende treibt, ist nach dieser turbulenten Woche schwer vorherzusagen. Dass die neue Mehrheit nicht bereit ist, das Spiel der Altherren (und -frauen) aus dem Partei-Establishment mitzuspielen, ist hingegen Beschlusslage. Ausgerechnet diejenigen, denen jetzt das Fehlen einer solidarischen Kultur vorgeworfen wird, zogen auf dem Bundeskongress eine klare Linie. Inhaltliche Diskussion statt persönlicher Fehde: „Der Hauptfeind steht nicht im eigenen Verband“, heißt es im Leitantrag.

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"Unerhört politisch", UZ vom 14. November 2025



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