Die deutsche Rechtsprechung setzt dem Streikrecht enge Grenzen – das muss nicht so bleiben

Unser gutes Recht

„Politischer Streik“ – ist der nicht illegal? 70 Jahre deutsches Arbeitsrecht haben das einstmals effektive Kampfmittel arbeitender Menschen zu einem Mysterium werden lassen. Ausdrücklich verboten ist er zwar nicht, erlaubt aber auch nicht.

Im Katalog der Grundrechte fehlt das Streikrecht als solches, in einem Nebensatz des Artikels 9 Absatz 3 Grundgesetz (GG) werden Arbeitskämpfe kurz erwähnt. Sie sind gestattet, sofern sie gewerkschaftlich geführt werden und auf „Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ gerichtet sind. Laut herrschender Auffassung an den Arbeitsgerichten darf sich ein Streik also nur auf einen „tariflich regelbaren Gegenstand“ beziehen. Der politische Streik aber geht darüber weit hinaus – er ist nach gängiger Definition die kollektive Arbeitsniederlegung zur Bekräftigung und Durchsetzung politischer, vom Staat oder von den Kommunen zu verwirklichender Ziele.

Kurz: Wenn es um allgemeinpolitische Forderungen oder „Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen“ geht, für die nicht der „Tarifpartner“, sondern der Staat oder eine seiner Institutionen zuständig ist – Rente, Wohngeld, Arbeitssicherheit, Höchstarbeitszeit und so weiter –, hält das Bundesarbeitsgericht die Streikaktion für unzulässig, sprich rechtswidrig. Wer an einem solchen „illegalen“ Streik teilnimmt, bekommt die ganze Härte des bürgerlichen Arbeitsrechts zu spüren – von der Einbehaltung des Lohns über Abmahnung und Kündigung bis hin zu Schadenersatzzahlungen. Nicht nur das: Sollte durch den Streik dem Staat ein bestimmtes Tun oder Unterlassen abgetrotzt werden (Erzwingungsstreik), wandert der Fall wegen Nötigung eines Verfassungsorgans (Paragraf 105 Strafgesetzbuch, Straferwartung bis zu zehn Jahren) auf den Tisch des Staatsanwalts.

Beim Gesetzgeber löst der Gedanke an den politischen Streik – und erst recht an seinen großen Bruder, den Generalstreik – offensichtlich Assoziationen wie Aufstand, Rechtsbruch und Barrikadenbau aus. Das in Artikel 9 Absatz 3 GG gewährte Rest-Streikrecht wird durch eine Vielzahl von juristischen Schraubzwingen in seiner Wirkungsmacht auf ein Minimum reduziert: Streiks nur für tarifliche Zwecke, nur unter Führung der Gewerkschaft, nur unter Wahrung der Friedenspflicht, gezähmt „maßvolles“ Verhalten im Tarifkonflikt, begrenzt durch das „Notwehrrecht“ der Unternehmerseite (Aussperrung) und Streik nur als „Ultima Ratio“. Das bundesdeutsche Streikrecht fällt damit weit hinter die Standards der Weimarer Reichsverfassung zurück.

Der Generalstreik war eines der klassischen Kampfmittel der Arbeiterklasse – ob im März 1920, als über zwölf Millionen an der Ruhr gegen den Kapp-Putsch protestierten, am 31. Januar 1933, als die Mössinger Textilarbeiter gegen den Faschismus streikten oder am 12. November 1948, als bis zu 9,25 Millionen Beschäftigte in der amerikanisch-britischen Bizone gegen Kriegsgewinnler und Preiswucher sowie für die Verstaatlichung von Banken und Schlüsselindustrien in den Generalstreik traten.

KR A 760212 1018 - Unser gutes Recht - Arbeitsrecht, Politischer Streik - Theorie & Geschichte
Auch in den Pausen blieben die „Gastarbeiter“ unter sich. Die Spaltung der Belegschaft nach Herkunft wurde nicht nur im Werk forciert. Die Stadtplaner sorgten für die nachhaltige räumliche Trennung auch nach der Arbeit. (Foto: Klaus Rose)

Die Wende für das Streikrecht kam infolge des bundesweiten Streiks der Druckarbeiter am 28. Mai 1952 – 674 Tageszeitungen erschienen nicht. Der Streik war Teil der Aktion der IG Druck und Papier gegen das von der Adenauer-Regierung auf den Weg gebrachte neue Betriebsverfassungsgesetz. Eine toxische Mischung aus der Sozialpartnerschaftsideologie des rheinischen Kapitalismus und dem vom NS-Arbeitsrechtler Hans Carl Nipperdey aus dunkler Zeit entlehnten Prinzip der „Betriebsgemeinschaft“ samt „Treuedienstverhältnis“ zerschlug das Konzept eines einheitlichen Streikrechts. Nipperdey, 1954 als Belohnung zum Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts gekürt, sorgte im folgenden Jahrzehnt dafür, dass dem politischen Streik in der Arbeitsgerichtsrechtsprechung das Lebenslicht ausgeblasen wurde.

Europaweit ist Deutschland – mit Ausnahme von Dänemark – allein mit dieser Meinung seiner Arbeitsrichter. Druck von außen, das weit gefasste Streikrecht der Europäischen Sozialcharta (Artikel 6 ESC) anzuerkennen, fruchtete bisher nicht. Dabei ist Richterrecht bloße Interpretation – und die lässt sich ändern. Dies geschieht jedoch selten freiwillig. Vom Arbeitsrechtler und früheren Vorsitzenden der IG Medien Detlef Hensche stammt der Satz: „Solche Fragen, die zuvörderst Machtfragen sind, legt man nicht in die Hände von Juristen.“ Welches Streikrecht wir haben, entscheidet sich in den Betrieben und auf der Straße.

Über den Autor

Ralf Hohmann (Jahrgang 1959) ist Rechtswissenschaftler.

Nach seinen Promotionen im Bereich Jura und in Philosophie arbeitete er im Bereich der Strafverteidigung, Anwaltsfortbildung und nahm Lehraufträge an Universitäten wahr.

Er schreibt seit Mai 2019 regelmäßig für die UZ.

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher laden wir Sie ein, die UZ als Wochenzeitung oder in der digitalen Vollversion 6 Wochen kostenlos und unverbindlich zu testen. Sie können danach entscheiden, ob Sie die UZ abonnieren möchten.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Unser gutes Recht", UZ vom 11. August 2023



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Flagge.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit