Pistorius nimmt Eskalation bewusst in Kauf

Waffen für Israel

Bundeswehr beginnt mit der Lieferung von Waffen und Munition an Israel. Die wohl bevorstehende Bodenoffensive im Gazastreifen droht einen Flächenbrand in Nah- und Mittelost auszulösen.

Die Bundeswehr beginnt vor der mutmaßlich bevorstehenden israelischen Bodenoffensive im Gazastreifen mit der Lieferung von Waffen an die israelischen Streitkräfte. Wie Verteidigungsminister Boris Pistorius mitteilt, gibt die Bundeswehr zunächst zwei der fünf Heron-Drohnen, die sie in Israel geleast hat, zurück; die Bundesregierung verhandelt zudem über die Lieferung von Munition und will umfassende Bestände an Sanitätsmaterial bereitstellen. Mit seiner Offensive reagiert Israel auf das furchtbarste Massaker im Nahostkonflikt seit dem Massaker von Sabra und Schatila im Jahr 1982; Hamas-Milizionäre ermordeten am Wochenende über tausend israelische Zivilisten. Bei Israels Angriffen auf den Gazastreifen wiederum sind bereits über 1.400 Menschen zu Tode gekommen, die Mehrzahl Zivilisten. Dass Israel die 2,3 Millionen Menschen im Gazastreifen von Strom, Nahrung und Wasser abschneidet, wird von Menschenrechtlern als Kriegsverbrechen eingestuft. Die Kämpfe beginnen inzwischen auf Syrien und auf den Libanon auszugreifen, wo deutsche Marinesoldaten tätig sind. In Israel mahnt ein prominenter Kolumnist, es gelte die Gewaltspirale zu durchbrechen.

Drohnen und Munition

Die Bundesrepublik beginnt mit der Lieferung von Waffen an die israelischen Streitkräfte. Wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius am gestrigen Donnerstag bestätigte, hat die israelische Regierung Berlin um zwei der insgesamt fünf Heron-Drohnen gebeten, die die Bundeswehr geleast hat. Sie sind in Israel stationiert; die Bundeswehr nutzte sie bislang zur Ausbildung ihrer Soldaten. Laut Berichten befinden sich dazu aktuell 16 deutsche Militärs in Israel; sie sollen am Wochenende nach Deutschland zurückkehren. Die Bundesregierung hat zugesagt, den israelischen Streitkräften die Drohnen zur Verfügung zu stellen. Laut Pistorius liegt inzwischen auch eine Anfrage nach „umfangreichem Sanitätsmaterial“ vor. Zudem benötigt Israel, wie der Bundesverteidigungsminister berichtet, Munition für Schiffe. Über entsprechende Lieferungen wird mittlerweile verhandelt; mit einer raschen Zusage ist zu rechnen. Dies ist umso mehr der Fall, als die israelischen Streitkräfte ihre massiven Angriffe auf den Gazastreifen fortsetzen und weithin mit einer israelischen Bodenoffensive gerechnet wird. Für den Fall, dass „sie die Bodenoffensive starten“, sei man sich bewusst, „dass wir alle damit rechnen müssen, dass die Situation eskaliert“, bestätigt Pistorius.

Das Massaker der Hamas

Mit den Angriffen reagiert Israel auf den Massenmord an israelischen Zivilpersonen, den Hamas-Milizionäre am vergangenen Samstag in Orten unweit der Grenze zum Gazastreifen verübten, darunter mehrere Kibbuzim. Allein auf einem Musikfestival in der Negev-Wüste brachten sie bis zu 250 überwiegend junge Menschen um; insgesamt kamen bislang rund 1.300 Israelis zu Tode, davon mehr als 1.000 Zivilisten. Über 3.000 wurden verletzt; mutmaßlich rund 150 wurden in den Gazastreifen entführt, wo sie weiterhin festgehalten werden, sofern sie nicht bei Luftangriffen ihr Leben verloren. Das Massaker ist das wohl furchtbarste im Rahmen des Nahostkonflikts seit dem Massaker von Sabra und Schatila, bei dem Mitte September 1982 christliche libanesische Milizen in einem Flüchtlingslager, das von israelischen Soldaten umstellt war, Palästinenser und libanesische Schiiten ermordeten. Die Zahl der Todesopfer ist bis heute nicht genau bekannt; der Nahostexperte Robert Fisk schätzte sie auf 1.700.

Kein Wasser, kein Strom

Auf das Massaker hat die israelische Regierung reagiert, indem sie zunächst eine komplette Abtrennung des Gazastreifens verhängte: Strom- sowie Wasserleitungen wurden gekappt, die Lieferung von Lebensmitteln und Treibstoffen wurde unterbunden. Die Lage der Menschen in dem bereits seit 2007 abgeriegelten Gebiet war schon zuvor desolat; von den rund 2,3 Millionen Einwohnern waren zuletzt nach Angaben der Vereinten Nationen 63 Prozent von internationaler Hilfe abhängig, 81 Prozent lebten in Armut. Annähernd eine halbe Million hat seit dem 7. Oktober keinerlei Lebensmittelrationen mehr erhalten. Das einzige Kraftwerk musste wegen Treibstoffmangels am Mittwoch den Betrieb einstellen. Gestern teilte das Rote Kreuz mit, auch die Generatoren, die etwa Krankenhäuser mit Notstrom versorgen, liefen nun nur noch wenige Stunden. Das größte Krankenhaus des Gebiets, das mittlerweile wohl auch nicht mehr über Strom verfügt, ist längst überfüllt und kann keine Verletzten mehr aufnehmen. Human Rights Watch stuft das Abschneiden des Gazastreifens von jeglicher Versorgung explizit als Kriegsverbrechen ein. Energieminister Israel Katz lehnt jegliche humanitäre Hilfe ab: „Bis die israelischen Entführten nach Hause zurückgebracht sind, wird kein elektrischer Schalter eingeschaltet, kein Wasserhydrant geöffnet und kein Tankwagen einfahren.“

Ein Flächenbrand

Durch Israels Angriffe auf den Gazastreifen sind bislang dem Gesundheitsministerium in Gaza zufolge mehr als 1.400 Palästinenser zu Tode gekommen; über 6.200 wurden verletzt. Die Angriffe dauern an. Die Streitkräfte bereiten sich laut Angaben eines Armeesprechers zugleich auf eine Bodenoffensive im Gazastreifen vor, „falls dieses von der politischen Führung entschieden wird“. Die Entscheidung sei noch nicht gefallen, heißt es zwar; mit einer Bodenoffensive wird allerdings weithin gerechnet. Schon in den vergangenen Tagen nahmen zudem tödliche Gefechte zwischen israelischen Truppen und der libanesischen Hisbollah zu. Am gestrigen Donnerstag bombardierte Israel schließlich auch syrische Flughäfen; in Damaskus und in Aleppo wurden die Landebahnen zerstört, der Flugbetrieb musste eingestellt werden. Starten die israelischen Streitkräfte die Bodenoffensive in Gaza, wird mit weiteren Angriffen der libanesischen Hisbollah gerechnet; es droht ein Flächenbrand im gesamten Nahen Osten.

„Eine asymmetrische Bedrohung“

Eskalieren die Kämpfe zwischen Israel und der libanesischen Hisbollah, dann droht die Bundeswehr direkt involviert zu werden. Die Deutsche Marine beteiligt sich seit dem Jahr 2006 an dem UN-Einsatz UNIFIL; sie überwacht dabei die Seegebiete des Libanons, um die Lieferung von Waffen an die Hisbollah zu verhindern, sie bildet die libanesische Marine aus und hat ihr unter anderem Küstenwachboote sowie Küstenradarstationen beschafft. Aktuell sind knapp 70 deutsche Soldaten im Rahmen von UNIFIL im Libanon stationiert; der maritime Einsatzverband wird schon seit Anfang 2021 jeweils von einem Flottillenadmiral aus der Bundesrepublik geführt. Aktuell nimmt die Korvette Oldenburg am UNIFIL-Einsatz teil. Zwar betont das Einsatzführungskommando der Bundeswehr, die Korvette sei nicht in den Konflikt zwischen Israel und dem Libanon involviert. Doch räumte der Kapitän der Korvette bereits Mitte September, als die aktuelle Zuspitzung des Konflikts noch nicht absehbar war, ein, sein Schiff sei mit Blick auf die fortdauernden Spannungen in der Region stets „einer latenten asymmetrischen Bedrohung“ ausgesetzt. Diese kann im Falle eines offenen Krieges zwischen Israel und der Hisbollah jederzeit manifest werden.

„Ein grausamer Preis“

Während die Kämpfe eskalieren und die Zahl der Todesopfer stündlich steigt, mahnen in Israel noch vereinzelte Stimmen, die Gewaltspirale nicht weiter anzuheizen, sondern sie zu durchbrechen, um irgendwann einmal zu einer Lösung des zugrunde liegenden Konfliktes zu gelangen. So warnt etwa Gideon Levy, Kolumnist der renommierten Tageszeitung „Haaretz“, man müsse Rücksicht auf die Zivilbevölkerung im Gazastreifen nehmen; diese habe schon in der Vergangenheit unter zahllosen willkürlichen Bombardements gelitten und dürfe nicht noch härteren Angriffen ausgesetzt werden. Das gelte ungeachtet des Schocks über das Massaker der Hamas auch deshalb, weil Israels Vorgehen gegen die Palästinenser in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten gescheitert sei. Man habe gedacht, man könne Unruhen mit Repression niederhalten, und „arrogant“ geglaubt, es sei möglich, „jeden Versuch einer diplomatischen Lösung zurückzuweisen“, schreibt Levy. Jetzt bestätige sich aber, dass sich Sicherheit auf diesem Weg eben nicht erreichen lasse: Es sei „unmöglich, zwei Millionen Menschen auf Dauer (im Gazastreifen; GFP) einzusperren, ohne einen grausamen Preis zu zahlen“. Levy ist freilich pessimistisch. „Die Drohungen, ‚Gaza zu planieren‘, zeigen nur eines“, schreibt der „Haaretz“-Kolumnist: „Wir haben nicht das Geringste gelernt.“

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