Kapitalverbände propagieren weitere Erhöhung der Lebensarbeitszeit

Weniger Arbeitslose, aber mehr Unterbeschäftigung

Von Philipp Kissel

Als im Radio die neuen Arbeitsmarktzahlen verkündet werden, handelt es sich zunächst scheinbar um eine Erfolgsmeldung: Nur noch 2,54 Millionen Personen waren im Oktober arbeitslos, 68 000 weniger als im September und 109 000 weniger als im Vorjahresmonat. Dann fügt die Nachrichtensprecherin – man möchte fast sagen, etwas verschämt – hinzu: Wenn man die sogenannten Unterbeschäftigten mitzähle, seien es allerdings 3,5 Millionen. Dazu gehören alle, die in einer Maßnahme oder vorübergehend arbeitsunfähig gemeldet sind. Die Unterbeschäftigung, also die so kalkulierte realistischere Arbeitslosenzahl stieg um 34 000 gegenüber dem Vorjahresmonat. Worin besteht also zunächst der Erfolg? Es gibt weniger offizielle Arbeitslose und mehr Unterbeschäftigte, man könnte sie auch inoffizielle Arbeitslose nennen. Wie geht das? Die Maßnahmen werden aufgestockt, laut Bundesagentur für Arbeit (BA) vor allem für Geflüchtete. Ein Jobwunder sieht anders aus, auch wenn die Unterbeschäftigung von über 5 Millionen im Jahr 2005 gesunken ist.

Ein weiterer Blick auf die Zahlen zeigt, dass es für Millionen keine sichere Beschäftigung gibt, von der man leben kann. Von den 2,54 Millionen Arbeitslosen erhielten nur 700 000 die Versicherungsleistung Arbeitslosengeld I, dagegen 1,7 Millionen Arbeitslosengeld II, auch Hartz IV genannt, das aus Steuern finanziert wird. Allerdings müssen viel mehr erwerbsfähige Menschen von dem sogenannten Existenzminimum leben: Im Oktober waren es 4,27 Millionen, ebenfalls ein kleiner Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Fast 8 Prozent der Menschen, die arbeiten können, waren hilfebedürftig. Was ist mit den 2,6 Millionen Menschen, die Hartz IV bekommen haben, aber nicht offiziell arbeitslos sind? Sie arbeiten mindestens 15 Wochenstunden, betreuen kleine Kinder, pflegen Angehörige oder sind in der Ausbildung. Wenn man nun die fast eine Million Leiharbeiter hinzuzählt, die zum großen Teil keine sichere Beschäftigung haben und ständig geheuert und gefeuert werden, ergibt sich eine ziemlich große Zahl an Menschen, für die es keine ordentliche Arbeit gibt.

Die Beschäftigtenzahlen stiegen ebenfalls und zwar um 371 000 auf 43,78 Millionen. Auch die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung hat um 474 000 Personen auf 31,46 Millionen zugenommen, davon sind allerdings rund zehn Millionen Teilzeitbeschäftigte, von denen wiederum viele mehr arbeiten wollen, um ein höheres Einkommen zu erzielen. Die Zahl der geringfügig Beschäftigten ist mit 7,4 Millionen weiterhin hoch.

Stagnierende Arbeitslosenzahlen und höhere Beschäftigtenzahlen – ist das ein Widerspruch? Nein, denn der Produktionsprozess braucht ständig „frisches Blut“ und wirft beständig ausgelaugte oder unpassende Arbeitskräfte aus. Das erklärt auch die mit fast einer Million hohe Zahl der Langzeitarbeitslosen und die Zahl der Arbeitslosigkeit der Älteren. Der Anteil der über 55-Jährigen bei den Menschen, die länger als vier Jahre Leistungen beziehen, liegt bei 67 Prozent.

Die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beklagt, dass die 691 000 gemeldeten offenen Stellen häufig nicht besetzt werden können. Deshalb werde das „Beschäftigungspotenzial der Älteren immer wichtiger“, wie ihr Präsident, Ingo Kramer sagt. An der Rente mit 67 dürfe nicht gerüttelt werden. Der „Sachverständigenrat“ (auch genannt die fünf Wirtschaftsweisen) fordert in seinem gerade vorgestellten Jahresgutachten zur Lage der deutschen Wirtschaft die Rente mit 71. Dagegen protestierte der DGB, dessen Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach den „Vorruhestand für Wirtschaftsweise“ forderte.

Immer mehr Ältere arbeiten, um nicht zu verarmen, das ist der Hintergrund der von Unternehmen und Regierung gefeierten höheren Beschäftigung der Älteren. Das Institut für Arbeitsmarkt und Qualifikation (IAQ) hat errechnet, dass Niedrigverdiener mehr als 56 Jahre arbeiten müssen, um auf eine Rente in Höhe der Grundsicherung zu kommen. Wenn man mit 16 anfängt, kann man mit 72 aufhören.

Der Sachverständigenrat forderte außerdem, dass der Mindestlohn nicht weiter steigen dürfe. Dieser wurde zwar nur auf 8,84 brutto angehoben und soll auf diesem Niveau bis Ende 2018 verharren, angeblich verhindere er aber die Beschäftigung von Geringqualifizierten. Das IAQ kommt aber in einer Untersuchung zu dem Schluss, dass 65 Prozent der Beschäftigten, die 2015 weniger als 8,50 Euro verdient haben, eine abgeschlossene Berufsausbildung haben. Es ist also ein Scheinargument. Für viele Jüngere gibt es zudem keine Ausbildung. Fast 2 Millionen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren haben keinen Berufsabschluss, die GEW fordert deshalb eine Abgabe von Unternehmen, die nicht ausbilden.

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"Weniger Arbeitslose, aber mehr Unterbeschäftigung", UZ vom 11. November 2016



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