Jürgen Schneiders Roman „Im Land der Lügen“

Wir alle können die nächsten sein

Von Birgit Gärtner

Heinz-Jürgen Schneider, Im Land der Lügen, Hamburg 2016, 258 S., 10,99 Euro

Nach drei spannenden historischen Kriminalromanen, die in den 1930er Jahren im Holsteinischen spielen, plaudert der Hamburger Strafverteidiger und Krimi-Autor Heinz-Jürgen Schneider erneut aus dem juristischen Nähkästchen. Diesmal treibt ihn allerdings die Gegenwart um: Inspiriert von der Hexenjagd gegen den Soziologen Andrej Holm, dem die Benutzung des Begriffs „Gentrifizierung“ Haft einbrachte, lässt Schneider den freiberuflichen Journalisten Ole Frei in seinem aktuellen Krimi „Im Land der Lügen“ in die Mühlen der Justiz geraten. Ein nervenaufreibender Spagat zwischen Recht und Gerechtigkeit, an dessen Ende mehr Fragen als Antworten stehen. Eine unterhaltsame fiktive Geschichte mit sehr viel Hamburger Schanzen-Lokalkolorit, die den Leserinnen und Lesern die sehr reale Wahrheit aufdrängt: Wir alle können die Nächsten sein.

„Es gibt Tage, da wünscht ich, ich wär mein Hund“, sang einst Reinhard Mey. Für den Hamburger Journalisten und Blogger Ole Frei war dieser schwarze Freitag so ein Tag: von einem Überfall-Kommando, bestehend aus uniformierten und bis an die Zähne bewaffneten Polizeibeamten, im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Schlaf gerissen, in den Polizeihubschrauber verfrachtet, zum Bundesgerichtshof (BGH) nach Karlsruhe geflogen, wo ihm der Haftbefehl eröffnet wurde, und schließlich im Betonbunker in Stuttgart-Stammheim inhaftiert. Wegen? Tja, gute Frage, die Ole Frei sich auch nach der Eröffnung des Haftbefehls nicht wirklich beantworten konnte.

Er hielt sich nicht gerade für eine große Nummer in der bundesrepublikanischen Medienlandschaft, geschweige denn für gefährlich. Seinen Lebensunterhalt bestritt er durch kleinere Beiträge zu Themen rund um staatliche Überwachung im Internet in linken Print- und Internetmedien wie „Neues Deutschland“ und „telepolis“. Wenn er von den paar Kröten, die er damit verdiente, seinen Lebensunterhalt hätte bestreiten müssen wäre es schlecht um ihn bzw. seine Finanzen bestellt gewesen. Diesen Luxus konnte er sich nur leisten, weil er durch eine Erbschaft finanziell abgesichert war. Jeder Euro, der auf sein Konto überwiesen wurde, trug lediglich dazu bei, dass seine Erbschaft nicht zu schnell aufgezehrt war. Schließlich musste er ja auch ans Alter denken.

Primär war er aktiv in der „Initiative für Netzfreiheit“ und Mit-Betreiber des Internetportals Nogestapo.net, „ein Blog gegen Repression, nicht für spektakuläre Enthüllungen“.

Nun aber war er – wenn auch unfreiwillig – Hauptdarsteller in einem sehr schlechten Polit-Thriller: ihm wurde vorgeworfen, Mitglied in einer terroristischen Vereinigung und beteiligt an einem Sprengstoffanschlag auf eine Firma zu sein, die Software für Polizei und Geheimdienste herstellt. Begründet wurde dieser Vorwurf u. a. mit einem Spaziergang mit seiner Lebensgefährtin während eines Sylt-Urlaubs. Dort soll er ein interkontinentales Kommunikationsrelais ausgekundschaftet haben, „das für die internationale seegestützte Datenübertragung zwischen Nordamerika und Europa von herausragender Bedeutung“ sei.

Wie konnte er seine Unschuld beweisen? Im Stammheimer Bunker? Ohne koffeinhaltige Dröhnung, Zugriff auf sein Archiv und das Internet und vor allem eingesperrt in einer Zelle, was ihm nach und nach den Verstand zu rauben schien.

Ole Frei war nicht prominent, aber doch in bestimmten linken Kreisen recht bekannt. Auch in seinem Revier, der Schanze, war er in das soziale und politische Leben eingebunden. Doch die Unterstützung von außen in dem Maße, in der er sie sich erhofft, und die er auch gebraucht hätte, gab es nicht. Statt der Vollversammlung im linken Stadtteil-Kulturzentrum „Rote Flora“ mit Hunderten von empörten Teilnehmenden gab es eine Zusammenkunft im engsten Kreis beim kurdischen Wirt seiner Stammkneipe. Das Leben der anderen ging nämlich schlicht weiter. Die Zeit war offensichtlich nur für Ole Frei stehen geblieben.

Sehr anschaulich beschreibt Schneider diesen Prozess des Kontrollverlusts, zunächst über das eigene Leben bedingt durch die Verhaftung, über Panikattacken in der Zelle, bishin zu der sehr langsam einsetzenden Erkenntnis, dass der Alptraum tatsächlich vorbei, und die Zellentür keine Zellentür mehr ist, sondern die eigene Wohnungstür, die Ole Frei nach Lust und Laune öffnen und schließen und auch passieren kann. Rein und raus, raus und rein, ganz wie es ihm beliebt.

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"Wir alle können die nächsten sein", UZ vom 6. Mai 2016



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