Die erste Ausgabe des Literaturmagazins „Berlin Review“ widmet sich Nahost

„Schmerzhafte Realität“

Es herrscht Kulturkampf und alle gehen hin. Nicht erst seit dem Angriff der Hamas vergangenen Oktober.

Gecancelt wurde hierzulande schon lange vorher. Der den Verhältnissen taubstumm gegenüberstehende Empörungsbetrieb nach innen entspricht dem nach außen: Eine Bundesregierung erklärt mal wieder ihre Solidarität und die Adressaten sollten sich die Frage stellen, womit sie das verdient haben. Derweil sich der deutsche Imperialismus aufs Neue über einen peripheren Krieg freut und um profitable Beteiligung ringt, schieben die Aiwangers aller Bundestagsparteien die Ursache für Antisemitismus in Deutschland auf die zu Abfallprodukten des globalen Ausbeutungsgefüges gemachten Migranten. Schließlich weiß man es hierzulande ja am besten, hat man den Judenhass doch bis zur industriellen Massenvernichtung durchexerziert und ist demnach vom Fach.

In diese Situation hinein hat nun das deutsche Pendant zur „New York Review of Books“ seine erste Ausgabe veröffentlicht. Das online abrufbare Literaturmagazin „Berlin Review“ widmet sich darin schwerpunktmäßig Nahost.

Der Historiker Joseph Ben Prestel (FU Berlin) zeigt mit „Geboren in ‚Jaffa, Jordanien‘“ eine Genese des Umgangs mit der palästinensischen Befreiungsbewegung anhand der großen Diaspora in Westdeutschland. Eine Zäsur sieht Prestel im Olympia-Attentat von 1972 und sieht Analogien zu den Nachwehen des 7. Oktober vergangenen Jahres.

Über den deutschen Sonderweg schreiben die beiden Politikwissenschaftler Ivan Krastev (Bulgarien) und Stephen Holmes (USA). Anlass dazu waren Kontroversen um die Verleihung des Hannah-Arendt-Preises an Masha Gessen aufgrund von Parallelisierungen jüdischer Ghettos im deutschen Faschismus mit Gaza. „Die deutsche Debatte darüber“, heißt es im Aufsatz „Broken Contact“, „was über Israel gesagt werden kann und was nicht, eine Debatte, die nirgendwo sonst in diesem Ausmaß tobt, hat die Welt an die einzigartige Geschichte Deutschlands erinnert. (…) Die unfaire Anklage gegen Gessen kann als verständliche Folge der einzigartigen Geschichte Israels und Deutschlands aufgefasst werden. Sie ist aber auch eine vorsätzliche Weigerung, einer neuen und schmerzhaften Realität ins Auge zu sehen.“ Als Außenperspektive die Frage aufwerfend, wie nützlich Ferndiagnosen sind, nehmen die beiden Autoren in ihrem Fazit einen Teil als Ganzes und sehen in der AfD die größte Bedrohung für die bürgerliche Demokratie in Deutschland, finden in der Cancel Culture aber ein Symptom des Demokratieabbaus.

Der in Berlin lebende Dozent für Jüdische Studien im französischen Lille, Elad Lapidot, zeichnet mit „Das Ende der gelben Zeit“ anhand der Essays des israelischen Schriftstellers David Grossman ein nüchternes Bild von der Friedensbewegung in Israel und ihrer Utopie: „Dem bestehenden jüdischen Staat, der die Besatzung missachtet, stellt Grossman die Vision eines alternativen jüdischen Staates entgegen, im Geiste des säkularen, humanistischen Zionismus – eine Vision, die allerdings weiterhin die Besatzung ausblendet.“ Gleichstellung sei erst möglich, so Grossmann, „wenn der ‚große‘ Konflikt irgendwann beigelegt“ sei.

Mit einem moralistischen Bodycount steigt der in Princeton lehrende französische Anthropologe Didier Fasson ein. Er verweist zwar korrekt auf die viel größeren Opferzahlen in vom Krieg überzogenen Ländern wie Irak im Vergleich zu den Toten, die die Invasoren verzeichnen. Realitätsfern wird es aber, wenn er zu skandalisieren sucht, dass Washington der Familie eines gefallenen US-Soldaten bis zu 500.000 Dollar überweist, den Hinterbliebenen eines vom Westen umgebrachten afghanischen oder irakischen Zivilisten nur 2.500 Dollar. Wäre es denn anders vorstellbar? Und wenn vorstellbar, wäre es denn anders besser?

Im menschelnden Pazifismus verhaftet, kommt dann eben auch dessen Kehrseite zu Wort, wenn die ukrainische Autorin Yevgenia Belorusets in ihrer Reportage über eine Rückkehr nach Kiew und das Treffen mit einem verwundeten orthodoxen Frontpriester („Kein Ende des Krieges“) so ehrlich-drucksend schreibt: „Ich spüre die Gefahr, dass der Krieg zu einem rechtmäßigen Zustand wird, mit dem man rechnen musste wie mit einem ordinären Geschehen. So hielt ich früher Kriegsgesetze für verbrecherisch, da sie Mord und Vernichtung auf eine bestimmte Weise legitimieren. Aber in diesen Kriegsmonaten beginne ich, meine Ansichten auf diese Gesetze zu gründen. Sie enthalten die Überreste von Vorkriegsvorstellungen über die Menschenrechte.“

Großes Aufsehen aber, klar, macht „Berlin Review“ durch den Beitrag von Adania Shibli. An die Israelin mit arabisch-palästinensischem Kontext sollte auf der letzten Frankfurter Buchmesse der Preis des Vereins Litprom gehen. Die Verleihung wurde verschoben, mit Shibli wurde ausgenommen unprofessionell umgesprungen. Dass Shibli hier zu Wort kommt, zeigt an, dass nicht mehr der „Tag danach“ ist und sich die bürgerliche Öffentlichkeit aktuell keinen Wettstreit der Übersprungshandlungen liefert. Skandalös ist Shiblis Essay „Als das Monster freundlich war“ keineswegs und kann mit jenem Einwortsatz beschrieben werden, mit dem es beginnt: „Gefühle.“

Berlin Review ist zu lesen unter blnreview.de

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Über den Autor

Ken Merten (seit 1990) stammt aus Sachsen. Er hat in Dresden, Hildesheim und Havanna studiert. Seine Schwerpunkte sind die Literatur der Jetztzeit, Popkultur und Fragen von Klassenkampf und Ästhetik. 2024 erschien sein Debütroman „Ich glaube jetzt, dass das die Lösung ist“ im Berliner XS-Verlag.

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"„Schmerzhafte Realität“", UZ vom 22. März 2024



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