So spannend war die Schachweltmeisterschaft lange nicht mehr

Züge für die Ewigkeit

Schon oft wurde das klassische Schach totgesagt. Die Partien seien zu lang und die Zahl der Remis zu hoch, so die seit Jahren vorgetragenen Beschwerden. Als dann auch noch Langzeit-Weltmeister und Werbeikone Magnus Carlsen seinen Rückzug ankündigte, schien der Drops gelutscht. Große deutsche Medien fuhren ihre Berichterstattung herunter. Niemand würde sich für das WM-Match zwischen Jan Nepomnjaschtschi, kurz Nepo genannt, und Ding Liren in Astana interessieren. Politisch heikel war die Sache ohnehin: Wenn ein Russe und ein Chinese gegeneinander antreten, kann der „Wertewesten“ nur verlieren.

Von den Unkenrufen unbeeindruckt lieferten sich Nepo und Ding ein packendes Duell. Beide kämpften intensiv, verteidigten wenig und gingen hohe Risiken ein. Nepo spielte schnell und taktisch; oft vergingen nur Sekunden bis zum nächsten Zug. Ding verfolgte aufwendige Strategien, dachte lange nach und arbeitete positionelle Vorteile heraus. Das Ergebnis der unterschiedlichen Herangehensweisen war ein faszinierender Schlagabtausch mit vielen entschiedenen Partien und abwechselnden Siegern. Auch jenseits des eigentlichen Matches kam es zu Brüchen und Wendungen. Ding hatte schon in der ersten Pressekonferenz ein Tabu gebrochen, offen über eine private Trennung und depressive Momente am Brett gesprochen. Außerdem wurden mehrere Übungsspiele des chinesischen Großmeisters geleakt; ein deutlicher Nachteil in einem Sport, der von den Nuancen geheim ausgetüftelter Strategien abhängt. Doch er bekam die Schwierigkeiten in den Griff.

In der sechsten Partie zeigte der Chinese, der einen Punkt zurücklag, seine taktische Brillanz. Im 41. Zug setzte er einen Bauern auf das Feld d5 und überraschte damit nicht nur den Gegner, sondern auch die Kommentatoren. Nicht einmal der Schachcomputer half weiter. Ein guter Zug, aber warum? Fast 15 Minuten brauchten die Experten, um das Rätsel zu lösen. Ding hatte eine komplexe Zugfolge angestoßen. Er wollte seine Dame opfern, um Nepos König zu fangen. Der ominöse Bauer auf d5 würde sechs Züge später das letzte Fluchtfeld versperren. Dings Meisterwerk brachte den Ausgleich und wurde schnell als eines der schönsten Mattnetze der WM-Geschichte gehandelt. Nepo beeindruckte das wenig. Der russische Großmeister gewann die folgende Partie und ging erneut in Führung. Es folgten vier hart umkämpfte Remis. In der zwölften Runde patzte Nepo schließlich und gab seinen Vorteil aus den Händen. Schockiert vom eigenen Fehler, rang er vor der Kamera mit seinen Gefühlen, führte Selbstgespräche und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Ding ergriff die Gelegenheit und glich wieder aus.

Nach 14 Partien stand es 7 zu 7. Vier Schnellschachpartien sollten die Entscheidung bringen. Die Bedenkzeit wurde auf 25 Minuten verkürzt und es folgten drei spannende, aber unentschiedene Runden. Als sich die letzte Partie dem Endspiel näherte, lag ein weiteres Remis in der Luft. Die Kommentatoren räumten beiden Kontrahenten keine Siegchancen ein, bereiteten sich schon auf ein weiteres Stechen im Blitzschach vor. Ding überraschte die Schachwelt erneut, schlug ein angebotenes Remis aus und wechselte in den Angriffsmodus. Die komplizierte Stellung blieb nur bei nahezu perfektem Spiel ausgeglichen. Ding hatte das erkannt und darauf vertraut, dass sein Gegner den letzten Fehler machen würde. So geschah es. Minutenlang beobachtete das Publikum, wie Nepo seine Niederlage realisierte. Mit zitternden Händen fegte er Figuren vom Tisch, wütende Verzweiflung brach sich Bahn. Der Russe machte noch ein paar Züge, bevor er kapitulierend die Hand ausstreckte. Ding schüttelte sie zweimal, stützte den Kopf ab und blickte nach unten. „Ich wusste, dass ich weinen würde“, sagte er später. Am Ende des dreiwöchigen Wahnsinns war selbst der Sieg schwer zu ertragen.

Schach ist zurück: Spektakulär, fordernd und voll emotionaler Brutalität zog es drei Wochen lang Millionen in seinen Bann. Nepo und Ding haben das Spiel aus seiner Verschlafenheit geholt und den abwartenden Stil beerdigt, der Magnus Carlsen viele Siege bescherte, aber nur selten mit Kreativität glänzte. Die Schach-WM kommt ohne ihn aus. Ding Liren ist der erste chinesische Schachweltmeister der Herren. Herzlichen Glückwunsch!

Über den Autor

Vincent Cziesla, Jahrgang 1988, ist seit dem Jahr 2023 Redakteur für das Ressort „Politik“. Der UZ ist er schon seit Jahren als Autor und Verfasser der „Kommunalpolitischen Kolumne“ verbunden. Während eines Praktikums lernte er die Arbeit in der Redaktion kennen und schätzen.

Cziesla ist Mitglied des Neusser Stadtrates und war von 2014 bis 2022 als hauptamtlicher Fraktionsgeschäftsführer der Linksfraktion in Neuss beschäftigt. Nebenberuflich arbeitet er in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Behinderung.

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"Züge für die Ewigkeit", UZ vom 12. Mai 2023



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