In Chemnitz traf sich „Die Linke“ zum Parteitag

Alles neu macht der Mai?

Melina Deymann und Vincent Cziesla

Große politische Auseinandersetzungen oder gar Weichenstellungen sollte es eigentlich nicht geben, als die Partei „Die Linke“ am vergangenen Wochenende zu ihrem Parteitag in Chemnitz zusammenkam. Die Parteiführung hatte sich ins Zeug gelegt, um einen Zeitplan zu entwerfen, der wenig Raum für Debatte, dafür aber viel Show und Selbstbeweihräucherung vorsah. Und zu feiern gab es einiges: etwa das gute Abschneiden bei der Bundestagswahl (8,8 Prozent und sechs Direktmandate) oder die Aufnahme von mehr als 50.000 Neumitgliedern in den vergangenen Monaten. Nebenbei sollte der passende Rahmen für die Produktion von flippigen TikTok-Videos und anderen Social-Media-Inhalten geschaffen werden.

Eine Weile lang sah es auch so aus, als würde das Konzept aufgehen. Die Stimmung war gut, der Presseandrang gewaltig. Kleine Fernsehstudios säumten die Rückwand der Messehalle, die von jungen, sich selbst filmenden Parteimitgliedern und mehr oder weniger erfolgreichen Influencern bevölkert war. Vor der Tür hatte die parteinahe Rosa-Luxemburg-Stiftung eine kleine Bühne aufgebaut, um Festivalstimmung zu verbreiten. Der Parteitag selbst begann mit Lichtshow und basslastigem Rap des Sängers „Flaiz“, erhobene Fäuste und Publikumsgesang inklusive.

Doch spätestens als Bundesgeschäftsführer Janis Ehling die Bühne betrat, keimte der Verdacht auf, dass die Politik der Partei doch noch prominenter diskutiert werden könnte, als es der Regie recht war. „Diesem Kanzler werden wir dieses Land nicht überlassen“, sagte Ehling mit Blick auf Friedrich Merz (CDU). Nun war es aber gerade die Linksfraktion im Bundestag gewesen, die Merz einen zweiten Wahlgang ermöglicht und damit zur schnellen Kanzlerschaft verholfen hatte. Der unausgesprochene Widerspruch blieb zunächst im Raum stehen – der Parteitag, eine eigene Welt?

Mehr Debatte als gewünscht

Die Rolle als Königsmacher sollte die Partei noch einholen, ebenso die starken Schwankungen, die einige Funktionäre in der Außen- und Friedenspolitik an den Tag legten und die ihren Gipfel in der Zustimmung von „Linken“-Landesregierungen zu den Kriegskrediten erreicht hatten.

Schon in der Generaldebatte wurde deutlich, dass eine ganze Reihe von Delegierten jedoch nicht schweigen wollte. „BlackRock-Merz ist der Kanzler des Kapitals, Kanzler des Militarismus, ein Kanzler, der energisch vor der Wahl und nach der Wahl die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern in die Ukraine fordert“, setzte beispielsweise Naisan Raji, Mitglied des Parteivorstandes, den Ton. „Warum muss dieser rechte Kanzler drei Tage früher, als es sein muss, ins Amt gehoben werden durch unser Agieren? Wir müssen uns davor hüten, dass wir darauf hereinfallen, wie unsere Linken-Ministerinnen und -Senatorinnen in Bremen und Mecklenburg-Vorpommern, dass wir uns vormachen, wir würden die Verantwortung tragen dafür, dass der Kapitalismus durch die bürgerlichen Parteien regierbar bleibt. Unsere Aufgabe ist, die Krise der Regierbarkeit als Symptom der Krise des Kapitalismus zu erkennen und wirksame antifaschistische Strategien zu entwickeln.“

200502 Linke Parteitag Naisan Raji - Alles neu macht der Mai? - Friedenspolitik statt Kriegshysterie, Kritik an Kanzlerwahl, Palästina-Solidarität, Parteitag der Linkspartei, Weichenstellung - Politik
Naisan Raji in der Generaldebatte (Foto: Vincent Cziesla)

Lukas Hof vom Studierendenverband „Die Linke.SDS“ skizzierte die Rolle der „Linken“ als Friedenspartei. 80 Jahre nach der Befreiung sei es die Aufgabe, darüber aufzuklären, dass die Regierenden einen Krieg vorbereiten. Christina Theresa Kunkel aus Bayern erzählte, dass sie mit Blick auf die Lage in Nahost schon oft überlegt hätte, ihr Parteibuch hinzuschmeißen, weil „diese Partei es nicht geschissen bekommt“, einen Völkermord auch als einen solchen zu bezeichnen. Kunkel ging auch auf den am Abend zuvor gefassten Parteivorstandsbeschluss ein, der unter dem Titel „Das Existenzrecht des Staates Israel ist für uns nicht verhandelbar“ die Mitglieder der Partei dazu aufrief, es mit der Palästina-Solidarität nicht zu übertreiben (siehe Seite 4). „Seit wann solidarisiert sich eine sozialistische Partei mit einem kapitalistischen Staat, (…) mit einem kapitalistischen, genozidalen Apartheidstaat?“, fragte Kunkel.

Neue Dynamik

Bei den Reaktionen auf diese und andere Reden in der Generaldebatte zeigte sich, dass die Kräfteverhältnisse innerhalb der Partei in Bewegung sind. Denn ein Teil der Delegierten applaudierte lautstark. Noch vor zwei Jahren war in Augsburg ein Delegierter ausgepfiffen worden, weil er es gewagt hatte, den Begriff „Völkermord“ zu erwähnen. Antideutsche Scharfmacher wie der frühere Berliner Kultursenator Klaus Lederer haben die Partei seitdem verlassen.

Die Verschiebungen in der Partei zeigen sich auch am Agieren des Jugendverbandes solid, der jahrelang von Antideutschen oder Angepassten dominiert worden war. In Chemnitz trat die Jugend als klar linker Taktgeber innerhalb der „Linken“ auf und ging dabei teilweise auch in den Frontalangriff auf das Parteiestablishment über. In einem Antrag forderten Linksjugend und SDS „die Ministerinnen und Senatorinnen der Partei ‚Die Linke‘ in den Landesregierungen Bremen und Mecklenburg-Vorpommern zum Rücktritt von ihren Ämtern auf“. Parteichefin Ines Schwerdtner musste persönlich in die Gegenrede gehen, um die Delegierten dazu aufzufordern, „kein Exempel“ zu statuieren. Trotz dieses Einsatzes ging die Abstimmung denkbar knapp aus. Der Antrag wurde mit 192 zu 219 Stimmen abgelehnt. 39 Delegierte enthielten sich. Auch mit einem Antrag, der eine wissenschaftliche Faschismusdefinition im Leitantrag verankern sollte, scheiterte die Jugend nur haarscharf.

Erfolg für Palästina-Solidarität

Diese und weitere Abstimmungen zeigten, dass sich viele Delegierte die Ergebnisse des Parteitags nicht vorbeten lassen wollten. Besonders deutlich wurde das kurz vor Schluss, als sich die Parteitagsregie schon auf den Feierabend eingestellt hatte. Zahlreiche strittige Anträge waren, dem Skript entsprechend, so weit nach hinten geschoben worden, dass eigentlich keine Zeit mehr blieb, um sie zu beraten. Mit einem Geschäftsordnungsantrag trat die EU-Abgeordnete Özlem Alev Demirel ans Mikrofon, um die Behandlung des Antrags „Antisemitismus, Repression und Zensur bekämpfen – Jerusalemer Erklärung umsetzen, tragfähiges Fundament schaffen!“ zu erzwingen. Die Delegierten folgten ihr mit 198 zu 183 Stimmen und verlängerten den Parteitag.

Der Antrag hatte die Anerkennung der „Jerusalemer Erklärung“ zum Ziel, einer Definition von Antisemitismus, die nicht so leicht gegen die Palästina-Solidarität gewendet werden kann, weil sie Kritik an der israelischen Regierung nicht per se als „antisemitisch“ brandmarkt. Im Namen der „Staatsräson“ verwenden Behörden, Verfassungsschutzämter und andere Institutionen in Deutschland hingegen die Arbeitsdefinition der „International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)“, die zahlreiche Repressionen gegen die Palästina-solidarische Bewegung ermöglicht.

Teil des Antrags war auch die Ablehnung der „im Bundestag verabschiedeten Resolutionen ‚Nie wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und stärken‘ und ‚Antisemitismus und Israelfeindlichkeit an Schulen und Hochschulen‘“. Die Linksfraktion im Bundestag hatte sich, um es sich nicht mit der Israel-Lobby zu verscherzen, dazu enthalten, obwohl beide Resolutionen die Grundlage für massive Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit bildeten. „Diese Resolutionen zeigen eindrücklich, dass sie nicht dem Schutz jüdischen Lebens dienen. Anders als die Überschriften versprechen, eröffnen diese Resolutionen den Weg zu einem autoritären staatlichen Vorgehen“, hieß es im Antrag.

Und wieder musste die Gegenrede von ganz oben gehalten werden – diesmal von Parteichef Jan van Aken. „Ich bin dagegen, dass wir mittels eines Parteitagsbeschlusses eine wissenschaftliche Debatte“ beenden, begründete er sein Werben für eine Ablehnung. Das sei „keine akademische Frage, sondern eine konkrete Frage für tausende Menschen“ in der Palästina-Solidarität, hielt ihm Özlem Demirel entgegen. „Wir sind Antifaschisten auf der Seite des jüdischen Lebens, aber wir sind auch auf der Seite des Lebens in Palästina“, sagte sie unter großem Jubel.

Und dann geschah das Unerwartete. Die Delegierten setzten sich mit wenigen Stimmen gegen die klare Ansage der Parteiführung durch. Der Antrag wurde beschlossen. Van Aken musste sich geschlagen geben und der Versuch, den Parteitag durch einen zuvor mühsam ausgehandelten Kompromissantrag zur Lage im Nahen Osten einzuhegen, war gescheitert.

Kompromiss und Umdeutung

Dabei hatte schon der zuvor erfolgte, auch vom Parteivorstand unterstützte, Beschluss einen kleinen Fortschritt bedeutet. Unter dem Titel „Vertreibung und Hungersnot in Gaza stoppen – Völkerrecht verwirklichen!“ hatte sich die Partei zwar immer noch nicht dazu durchringen können, den Völkermord als solchen zu bezeichnen, aber stattdessen Wissenschaftler und NGOs zitiert, die den Genozid benennen. Zudem hatte sich der Antrag klar in den Forderungen nach einem sofortigen Stopp der militärischen Unterstützung Israels und „gegen den verzerrten Gaza-Diskurs in Deutschland“ positioniert – an Letzterem hatte sich der Parteivorstand noch am Vorabend des Parteitags beteiligt.

Ebenfalls ein Fortschritt im Vergleich zur bisherigen Beschlusslage ist die Verabschiedung des ausgehandelten Kompromissantrags „Ohne Wenn und Aber: Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!“. Darin wendet sich „Die Linke“ gegen die „massive Militarisierung aller gesellschaftlichen Bereiche“ und die Hochrüstung – und setzt vor allem auch auf außerparlamentarische Aktivität. „Die Lehren aus zwei Weltkriegen in Europa werden dabei bedenkenlos beiseitegeschoben. Mit der Behauptung, Russland könne bald NATO-Territorium angreifen, werden bewusst Ängste geschürt“, heißt es darin. Das ist insofern bemerkenswert, als dass sich auf den vergangenen Parteitagen und auch dazwischen immer wieder Stimmen der Linkspartei an dieser Panikmache beteiligt hatten. Keine Aussagen trifft der Antrag allerdings zu den von der Partei und insbesondere vom Parteivorsitzenden regelmäßig erhobenen Sanktionsforderungen gegen Russland. Auch die Rolle des deutschen Imperialismus und der EU werden bestenfalls angedeutet, etwa wenn es heißt: „Der Druck, die EU noch stärker in Richtung einer ‚Verteidigungsunion‘ auszubauen, geht maßgeblich von Deutschland und Frankreich aus.“ Ein klares Bekenntnis zum Hauptfeind im eigenen Land ist das nicht – und es lässt Hintertüren offen, die vor allem die Parteirechte zu nutzen weiß.

Dass sie das tun wird, machten die Mitglieder des rechten Flügels in der Debatte über den Antrag deutlich. Gleich nach der Einbringung bevölkerten sie die Warteschlangen vor den Mikrofonen, um den bevorstehenden Beschluss umzudeuten. In den Reden der NATO-Freunde wurde der Stellvertreterkrieg in der Ukraine mal eben zum „schlimmsten Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg“ oder zu einem „brutalen Eroberungskrieg Russlands“. Es sei nicht mehr zeitgemäß, dem westlichen Imperialismus in den Arm fallen zu wollen, erklärte Christoph Spehr aus Bremen. Stattdessen müsse über „Verteidigungsfähigkeit“ diskutiert werden, alles andere sei Nostalgie.

Eine Frage der Taktik

Doch auch wenn das rechte und das Regierungslager die begrenzte Debatte über Krieg und Frieden dominieren konnten, traten sie in Chemnitz ohne erkennbares Programm auf. So nutzte Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow seinen festen Redeslot in der Generaldebatte nicht, um die Beihilfe zur Merz-Wahl zu begründen – und sprach lieber über den Papst. Dieses unschöne Geschäft fiel somit dem Fraktionsvorsitzenden Sören Pellmann zu, der wenig überzeugend erklärte, „wie demütig CSU und CDU, die uns sonst mit dem Arsch nicht angucken, auf uns zugegangen sind“. Und dass man es sich damit nicht leicht gemacht habe. Ähnlich argumentierte auch Ines Schwerdtner.

Ansonsten überwog der Verbalradikalismus. Von Sozialismus, Klasse und Klassenkampf war zu hören. Begriffe, die in den glücklosen Wissler-Schirdewan-Jahren nach und nach aus den Beschlüssen, Reden und Dokumenten verschwunden waren. Doch der Widerspruch zwischen der auf dem Parteitag genutzten Sprache und dem (parlamentarischen) Agieren der Partei in den vergangenen Monaten blieb offensichtlich.

Es ist somit naheliegend, dass sich das Regierungslager auf eine taktische Fortsetzung dieses Kurses eingestellt hatte: Polternd auf dem Parteitag, staatstragend im Parlament. Um das Stillhalten der Partei dabei abzusichern, war man offenbar auch bereit, den linken „Linken“ in der Friedensdebatte einige symbolische Erfolge zuzugestehen. Und die ersten Andeutungen der CDU, den Unvereinbarkeitsbeschluss zur Linkspartei überprüfen zu wollen, dürfte die rechten Kräfte in diesem Vorgehen bestärkt haben. Allerdings waren es am Ende die Delegierten, die dieser Taktik einen nur schwer zu ignorierenden Stein in den Weg legten. Mit der klaren Absage an die „Staatsräson“ – und insbesondere an die damit verbundene Repression nach innen – dürfte der Kuschelkurs mit den Christdemokraten vorerst beendet sein. So hat der Parteitag Fakten geschaffen, wo laut Drehbuch noch weiter laviert werden sollte.

Nun muss die Partei, die im Bundestag den Schlüssel zur Zweidrittelmehrheit in den Händen hält, beweisen, dass die Beschlüsse des Parteitags mehr wert sind als das Papier, auf dem sie stehen. Dabei wird eine große Rolle spielen, in welche Richtung die zahlreichen Neumitglieder marschieren. Denn die entscheidenden Weichenstellungen wurden auf diesem Parteitag mit denkbar knappen Mehrheiten beschlossen. Viel Zeit dafür, sich zu sortieren, bleibt angesichts von Krise und Kriegsgefahr nicht. Schon sehr bald wird sich zeigen, ob die neue Dynamik in den Kräfteverhältnissen für eine Kurskorrektur genutzt wird – oder ob Aken, Ramelow und die anderen einfach weiter ihr Programm abspielen können.

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"Alles neu macht der Mai?", UZ vom 16. Mai 2025



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