Der Wind hat sich gedreht. Noch im Herbst 2023 war die IG Metall mit der Forderung nach einer Senkung der Wochenarbeitszeit von 35 auf 32 Stunden in die Tarifrunde in der Stahlindustrie gestartet. So sollte die Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich in der gesamten Branche durchgesetzt werden. „Wir wollen eine echte Entlastung für die Beschäftigten erreichen, ohne dass sie deshalb weniger verdienen“, begründete die größte DGB-Gewerkschaft damals die Tarifforderung. Man fühlte sich an 1984 erinnert, als sich Metallerinnen und Metaller auf den Weg machten, in einem mehr als sechswöchigen Arbeitskampf den Einstieg in die 35-Stunden-Woche zu erkämpfen, oder doch zumindest an die erstmalige Einführung der Viertagewoche 1993 bei VW, als es auf diese Weise gelungen war, in der Krise 30.000 Jobs zu retten.
In der aktuellen Krise steht statt Verkürzung Arbeitszeitverlängerung auf der Agenda. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht vor, dass künftig eine wöchentliche statt tägliche Höchstarbeitszeit gilt. Mit dem zynischen Verweis auf eine angeblich „bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ kann die tägliche Höchstarbeitszeit dann, zur Freude der Bosse, bis auf zwölf Stunden heraufgesetzt werden.
Flankiert wird das Vorhaben durch steuerliche Entlastungen bei Mehrarbeit. So sollen Zuschläge, die über die tariflich vereinbarte beziehungsweise an Tarifverträgen orientierte Vollzeitarbeit hinausgehen, steuerfrei gestellt werden. Als Vollzeit gelten dann für tarifliche Regelungen Wochenarbeitszeiten von mindestens 34 und für nicht tariflich festgelegte von mindestens 40 Stunden. Falls „Arbeitgeber“ Teilzeitbeschäftigten eine Prämie zur Ausweitung der Arbeitszeit zahlen, soll diese ebenfalls steuerlich begünstigt werden.
Darüber hinaus beabsichtigt Schwarz-„Rot“, durch die sogenannte Aktivrente finanzielle Anreize zu schaffen, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Wer nach dem Erreichen des gesetzlichen Rentenalters weiterarbeitet, soll sein Gehalt bis zu 2.000 Euro im Monat steuerfrei erhalten. Zudem ist geplant, die Rückkehr zum bisherigen „Arbeitgeber“ nach Erreichen des Renteneintrittsalters zu erleichtern, indem das Vorbeschäftigungsverbot aufgehoben und dadurch befristetes Weiterarbeiten ermöglicht wird. Auch Arbeitsverhältnisse während des Studiums sollen vom Anschlussverbot durch das Teilzeit- und Befristungsgesetz ausgenommen werden.
Mit dem Einstieg in die 42-Stunden-Woche erfüllen die Koalitionäre in spe einen langgehegten Wunsch der Kapitalverbände. „Ich habe persönlich große Sympathie für eine optionale Erhöhung der Wochenarbeitszeit.“ Eine solche längere Wochenarbeitszeit wäre sicherlich leichter umzusetzen als eine allgemeine Einführung der Rente mit 70, kommentierte Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), die Pläne aus dem Berliner Regierungsviertel in einem Interview mit der „Funke-Mediengruppe“.
Zuvor hatte sich bereits Michael Hüther für eine 42-Stunden-Woche als Regelarbeitszeit ausgesprochen. So könnten, so die Argumentation des Direktors des Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW), langfristig sinkende Einkünfte der Rentenversicherung ausgeglichen werden.
Widerspruch kommt von den Gewerkschaften. Der DGB bezeichnet längere Arbeitszeiten zu Recht als billige Scheinlösungen für die Alterssicherung und warnt vor überlangen Arbeitszeiten, die auf Dauer krank machen. Um die Rentenversicherung zukunftsfähig aufzustellen, seien stattdessen flächendeckende tarifliche Entlohnung und eine Sozialversicherungspflicht ab dem ersten verdienten Euro nötig, ohne Ausnahmen bei Minijobs, Saisonarbeit, Selbstständigkeit und den Bezügen von Mandatsträgern.
Stichhaltige Argumente, die jedoch durch den jüngsten Abschluss für den öffentlichen Dienst konterkariert werden. Dieser beinhaltet die Möglichkeit, die Arbeitszeit „freiwillig“, bezahlt und mit Zuschlägen auf 42 Stunden pro Woche erhöhen zu können – genau die Regelung, die am Koalitionsvertrag zu Recht kritisiert wird.