Der Gesundheitssektor spielt in der Kriegsvorbereitung eine entscheidende Rolle. Bundeswehr-Ärzte bedauern Erfahrungsverlust nach Weltkriegen

Aufmarsch der Kriegsmedizin

„1. Die deutsche Armee muss in vier Jahren einsatzfähig sein. 2. Die deutsche Wirtschaft muss in vier Jahren kriegsfähig sein.“

Wer hat das gesagt? Pistorius oder Kiesewetter? Nein, das erklärte Adolf Hitler 1936 in seiner geheimen Denkschrift zum Vierjahresplan.

Seit April des Jahres 2023 wird der „Operationsplan Deutschland“ als Geheimpapier für den Ernstfall entwickelt und fortgeschrieben. Nach Angaben der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung ist der Plan ein „gemeinsamer Handlungsrahmen für Militär und Gesellschaft“. Er umfasse „sämtliche Einsatzszenarien der deutschen Bundeswehr in Frieden, Krise und Krieg“ sowie „die Bandbreite von Heimatschutz bis zur nationalen territorialen Verteidigung“. Hauptsächlich geht es darum, die gesamte Gesellschaft in die Sicherstellung des Aufmarsches der alliierten Streitkräfte an der NATO-Ostflanke einzubinden.

Weitere Anforderungen an die sogenannte Zivilgesellschaft werden im „Grünbuch Zivil-Militärische Zusammenarbeit“ (ZMZ 4.0) dargestellt. Es wurde im Januar dieses Jahres von Bundestagsabgeordneten, Mitarbeitern des Innenministeriums, des Verfassungsschutzes, von Bundeswehrangehörigen, Blaulichtorganisationen, PricewaterhouseCoopers, dem Bundesverband Deutscher Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, der Bundeswehr-Universität München und anderen erstellt. „LV/BV (Landes- und Bündnisverteidigung) soll absehbar nicht nur geübt, sondern auch praktiziert werden“, heißt es im Grünbuch. Es geht darum, das Primat des Militärischen zu etablieren. Deutschland soll seiner neuen Rolle als Drehscheibe im Rahmen des Host Nation Support Acts der NATO gerecht werden.

NATO-Drehscheibe

Dabei geht das Grünbuch von folgendem Phantasieszenario aus:

2029: Die NATO-Staaten betrachten mit Sorge, dass der Ukrainekrieg beendet ist und Russland zwar noch einen Teil der Ukraine besetzt hält, aber nach einer großen Friedenskonferenz alle schweren Waffen von der Kontaktlinie abgezogen hat. Die USA sehen ihre Aufgabe als erledigt an und ziehen sich über den Atlantik zurück.

2030: Die Nachrichtendienste behaupten, dass Russland militärische Verbände zur Wiederaufnahme der regelmäßig stattfindenden Übung „Zapad“ (Westen) in die Oblaste Kaliningrad und Leningrad verlegt. Das nimmt die NATO zum Anlass, ihrerseits immer mehr Kampfeinheiten und schweres Kriegsgerät nach Osten zu verlagern, in Richtung der belarussischen und russischen Grenze. Gemäß einer Entscheidung auf dem NATO-Gipfel in Madrid im Jahr 2022 werden innerhalb von 180 Tagen bis zu 800.000 Soldaten in Marsch gesetzt.

Wie das genau ablaufen kann, beschreibt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe auf seiner Homepage: „Wann immer sich eine fremde Streitkraft durch Deutschland bewegen will, braucht sie eine Genehmigung. Diese wird über das Bundesministerium für Verteidigung erteilt.“

Um das auch praktisch zu ermöglichen, muss die erforderliche Transport- und Versorgungsinfrastruktur für den Transit von circa 800.000 Soldaten an die NATO-Ostgrenze vorgehalten und zur Verfügung gestellt werden. Hinzu kommen die Vorbereitungen für den Rückweg, einschließlich der Entgegennahme von Leichensäcken. Dabei kommen auch erhebliche Belastungen auf das deutsche Gesundheitssystem zu, wie das Grünbuch andeutet: „Wir müssen uns zum Beispiel darauf einstellen, dass Verwundete hier klinisch folgeversorgt werden müssen. Inklusive der Rehabilitation, bis sie wieder zum Einsatz entlassen werden.“

Kriegsmedizin

Der Missbrauch der Medizin für Kriegszwecke ist nicht neu. Die Entwicklung der modernen Medizin hat enge Beziehungen zur Kriegsgeschichte. Die Traumatologie hat ihren Ursprung in der Erstversorgung von verletzten Soldaten auf den Schlachtfeldern des 18. Jahrhunderts. Das Wirken von Florence Nightingale im Krimkrieg 1853 wird als Ursprung der modernen Krankenpflege angesehen.

390802 Kriegsmedizin - Aufmarsch der Kriegsmedizin - Gesundheitswesen, Kriegsmedizin, Kriegsvorbereitungen, Militarisierung, Operationsplan Deutschland - Hintergrund
… zur fliegenden Intensivstation im MedEvac-Airbus der Bundeswehr. (Foto: Bundeswehr/Kevin Schrief)

Im Ersten Weltkrieg wurden traumatisierte Soldaten, sogenannte „Kriegszitterer“, so lange mit Elektroschocks behandelt, bis sie wieder an die Front geschickt werden konnten. Im Zweiten Weltkrieg wurden ganze Bataillone mit psychisch oder körperlich Kriegsversehrten aufgestellt, dazu gehörten 30 „Magenbataillone“ und elf „Ohrenbataillone“. Der Generalstabsarzt der Bundeswehr, Johannes Backus, sagte im Dezember 2024 der „Süddeutschen Zeitung“: „Erfahrung und Wissen von Ärzten, die die Weltkriege erlebt haben, sind über die Jahrzehnte verlorengegangen. Das könnte sich jetzt rächen.“

Von den heutigen Unfallchirurgen haben manche schon ihre praktischen Erfahrungen in Kriegsmedizin gesammelt, vor allem bei der Versorgung von Kriegsverletzten im Jugoslawienkrieg, in den Irakkriegen und im Ukrainekrieg – und zwar sowohl bei der Hospitation oder im Einsatz vor Ort (mit Einverständnis des hiesigen Arbeitgebers) als auch bei der Behandlung verletzter Soldaten in deutschen Kliniken (rund 1.500 aus der Ukraine). Entsprechende theoretische Fortbildungen werden von den Fachgesellschaften angeboten. TDSC-Kurse (Terror and Disaster Surgical Care), die auch den Umgang mit chemischen, biologischen, radiologischen und nuklearen Substanzen einbeziehen, sind komplett ausgebucht. Dennoch fehlen laut Dietmar Pennig, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie, in Deutschland 3.000 in Kriegsmedizin ausgebildete Ärzte.

Ein Problem für die Kriegspläne, denn die medizinische Versorgung sei entscheidend für eine glaubwürdige Abschreckung, heißt es im Grünbuch. Um Abhilfe zu schaffen, sollen alle Akteure im Gesundheitswesen im Rahmen der Gesamtverteidigung ihren Beitrag leisten und entlang des Bedarfs der Streitkräfte planen. Dazu gehören Hilfsorganisationen für Katastrophenschutz und Rettungsdienst, ambulante Versorgungseinrichtungen, Apotheken, Arztpraxen, die Kassenärztliche Vereinigung, die Gesundheitsämter, Krankenhäuser und Reha-Einrichtungen.

Als Teil der Nationalen Sicherheitsstrategie ist ein Gesundheitssicherstellungsgesetz vorgesehen, das „insbesondere die effiziente und dezentrale Bevorratung von Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie regelmäßige Ernstfallübungen für das Personal für Gesundheitskrisen sicherstellen“ soll. „Um auf chemische, biologische radiologische und nukleare Gefahren (CBRN) besser vorbereitet zu sein, wird die Bundesregierung Fähigkeiten zum CBRN-Schutz ausbauen, Notfallpläne aufstellen und Notfallübungen durchführen“, so der Wortlaut der Nationalen Sicherheitsstrategie. Dabei handelt es sich beispielsweise um Übungen mit einem Massenanfall von Verletzten (MANF). Katastrophen- und Kriegsmedizin wird bewusst vermischt. Dabei geht es um völlig verschiedene zeitliche Dimensionen. Zivile Katastrophen dauern Stunden bis Wochen, kriegerische dauern Monate bis Jahre. Hinzu kommt die völlig verschiedene Verfügbarkeit von Ressourcen in einem intakten oder völlig zerstörten Umfeld.

Vorrang des Militärs

Generalstabsarzt Nolte fordert: „Wir arbeiten hart daran, so schnell wie möglich wieder kriegstauglich für eine Landes- und Bündnisverteidigung zu werden. Gleichzeitig muss aber auch das zivile Gesundheitswesen kriegstüchtig werden.“ Die medizinische Versorgung sei „wesentlich für die Durchhaltefähigkeit der Streitkräfte, vor allen Dingen aber auch für die Moral der Soldatinnen und Soldaten“ – so Kriegsminister Boris Pistorius (SPD) anlässlich der Verlängerung des Vertrags mit der Ammerlandklinik im vergangenen Jahr.

Ab Beginn der Kampfhandlungen ist täglich (!) mit 5.000 Toten und nach Angaben der Zeitschrift „Wehrmedizin und Wehrpharmazie“ mit 1.000 Verletzten zu rechnen. Davon werden nach Berechnungen 33,6 Prozent intensivstationspflichtig, 22 Prozent vermehrt pflegebedürftig und 44,4 Prozent leichter verletzt sein. Über ein Kleeblattsystem, das während der Corona-Pandemie zur bundesweiten Versorgung der Schwerstkranken auf Intensivstationen entwickelt wurde, werden die Kriegsverletzten verteilt.

In diesem Szenario sind die fünf Bundeswehrkrankenhäuser nach spätestens 48 Stunden komplett ausgelastet und die Verletzten müssen in zivilen Krankenhäusern aufgenommen werden, auch zu Lasten der normalen Patientenversorgung. Die Behandlung von Militärangehörigen erhält dann den Vorrang gegenüber zivilen Patienten, gleich welche Erkrankung sie haben. Die Individualmedizin aus Friedenszeiten wird aufgegeben im Inte­resse der Wiederherstellung von Fronttauglichkeit so vieler Soldaten wie möglich. Katastrophen- und Kriegsmedizin wird bewusst vermischt, vor allem im Rahmen der Übungen zur Bewältigung von Massenanfällen von Verletzten (MANV).

Die Uniklinik Köln plant schon eine unterirdische Intensivstation. Auch die „Berliner Krankenhäuser bereiten sich auf den Kriegsfall vor“, schrieb das „Deutsche Ärzteblatt“. Die Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit und Pflege habe einen Rahmenplan „Zivile Verteidigung Krankenhäuser“ vorgelegt.

In Hamburg findet Ende September die NATO-Großübung „Red Storm Bravo“ statt, bei der schwerstes Kriegsgerät und Militärkolonnen mitten durch die Stadt ziehen sollen, zum Teil mit nächtlicher Hubschraubereskorte. In den Schulen soll Gehorsam bei Luftschutzübungen trainiert werden und in den Krankenhäusern die Funktionsfähigkeit als erweiterte Feldlazarette.

Ein anderes Mindset

Für die Bevölkerung wird eine Kommunikationsstrategie erarbeitet, die zur Akzeptanz der zu erwartenden Einschränkungen führen soll. Auch beim „normalen“ Bürger müsse ein neues Staatsbürgerbewusstsein, ein anderes Mindset eintreten – so „security-network.com“ in seiner Publikation: „OPLAN Deutschland: Es muss ein Umdenken stattfinden!“.

Die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat bekanntgegeben, dass sie den Kampf der EU „für die Demokratie“ anführen will, und versprach der jetzigen Generation von Europäern einen „Kampf für Freiheit und Souveränität“ analog zu dem, „den die Ukrainer führen“. Also nicht nur Kampf bis zum letzten Ukrainer, sondern auch bis zum letzten Europäer? Da braucht man natürlich keinen Sozialstaat mehr, weder ein menschenwürdiges Gesundheitswesen ohne Praxisgebühr und Kliniksterben noch Bürgergeld, Kindertagesstätten und auskömmliche Renten.

Aber die Bundeswehr will mehr als die finanziellen Ressourcen der Bevölkerung. Gebraucht werden unter anderem auch Vollblutkonserven für Soldaten, wie das „Deutsche Ärzteblatt“ mitteilte.

Bereits vor 26 Jahren haben die Deutsche Krankenhausgesellschaft und das Bundesverteidigungsministerium eine gemeinsame Vereinbarung zur zivil-militärischen Zusammenarbeit der Krankenhäuser unterzeichnet. Kernpunkt dieser Vereinbarung war laut der Zeitschrift „Das Krankenhaus“ die kontinuierliche und verstärkte Zusammenarbeit bei Aus- und Fortbildung sowie die gemeinsame Nutzung von Material und Geräten. Dazu gehört auch ein Mustervertrag zur Kooperation von Bundeswehrkliniken mit zivilen Partnerkrankenhäusern. Als Bonbon für das Personal wird ein Aufstieg bis in höhere Führungspositionen im Sanitätsdienst der Bundeswehr angeboten als „Fachkarriere Pflege“.

Keine Hilfe möglich

Im März des vergangenen Jahres wurden in den USA die „Nuclear Employment Guidance“ (NEG), die neuen Leitlinien für den Einsatz von Atomwaffen, verabschiedet. Darin wird festgelegt, gegen wen und mit welchen nuklearen Mitteln in welchem Falle Krieg geführt wird. Laut „New York Times“ geht es dabei darum, einen Drei-Fronten-Krieg gegen China, Russland und Nordkorea führen und gewinnen zu können. Zentrales Element dieses Krieges ist die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland – eine enorme Steigerung der Atomkriegsgefahr.

Schon 1969 hat die Bundesärztekammer festgestellt, dass es im Falle eines atomaren Krieges überhaupt keine sinnvolle medizinische Versorgung mehr gibt und somit der Bevölkerung eine falsche Sicherheit vorgetäuscht wird. Die Schlussfolgerung der IPPNW im Jahr1982 lautete: Wir werden euch nicht helfen können!

Die Zeitschrift „Wehrmedizin und Wehrpharmazie“ hat allerdings schon 2023 die Illusion verbreitet, medizinische Hilfe könne im Atomkrieg aufrechterhalten werden, die gesundheitlichen Folgen seien handhabbar. Zum Beispiel soll mit „retrospektiver Dosimetrie“ durch Genanalyse noch vor Auftreten von Symptomen festgestellt werden können, wie stark die Verstrahlung eines Patienten nach einem Nuklearangriff ist und wie schwerwiegend die zu erwartende Strahlenkrankheit. Im Rahmen einer Triage-Entscheidung wirkt sich das unter Umständen katastrophal aus: Der Patient wird wegen geringer Überlebenswahrscheinlichkeit möglicherweise nicht mehr behandelt.

Zurzeit wird zwar mit Förderung des Europäischen Verteidigungsfonds ein oraler Wirkstoff zur Behandlung der Strahlenkrankheit entwickelt, der bis 2029 marktreif sein soll. Ob er aber kostengünstig genug sein wird zur Behandlung der gesamten Bevölkerung, darf bezweifelt werden. Otto Normalsoldat wird sich wohl mit Jodtabletten begnügen müssen.

Frankfurter Erklärung, IPPNW-Kongress im März 1982:
„Ich halte alle Maßnahmen und Vorkehrungen für gefährlich, die auf ein Verhalten im Kriegsfall vorbereiten sollen. Ich lehne deshalb als Arzt jede Schulung oder Fortbildung in Kriegsmedizin ab und werde mich nicht daran beteiligen. Das ändert nichts an der Verpflichtung und Bereitschaft, in allen Notfällen medizinischer Art meine Hilfe zur Verfügung zu stellen und auch weiterhin meine Kenntnisse in der Notfallmedizin zu verbessern.“

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Kritischer Journalismus braucht allerdings Unterstützung, um dauerhaft existieren zu können. Daher freuen wir uns, wenn Sie sich für ein Abonnement der UZ (als gedruckte Wochenzeitung und/oder in digitaler Vollversion) entscheiden. Sie können die UZ vorher 6 Wochen lang kostenlos und unverbindlich testen.

✘ Leserbrief schreiben

An die UZ-Redaktion (leserbriefe (at) unsere-zeit.de)

"Aufmarsch der Kriegsmedizin", UZ vom 26. September 2025



    Bitte beweise, dass du kein Spambot bist und wähle das Symbol Baum.



    UZ Probe-Abo [6 Wochen Gratis]
    Unsere Zeit