Zur aktuellen ökonomischen Verfasstheit des deutschen Imperialismus

Butter oder Kanonen

Bei diesem Beitrag handelt es sich um die redaktionell leicht überarbeitete Fassung eines Referats, das vom Autor im Rahmen der Tagung des SDAJ-Bundesvorstands am 6. Mai 2023 in Leverkusen gehalten wurde.

Die Pandemiejahre und der Krieg in der Ukraine hatten und haben weiter starke Auswirkungen auf die Klassenkämpfe.

Die Pandemie als außerökonomischer Faktor traf in Deutschland auf eine vernachlässigte Infrastruktur, wie sie typisch ist für den entwickelten staatsmonopolistischen Kapitalismus. Die Erscheinungsformen der allgemeinen Krise zeigen sich deutlicher. Die ökonomischen Ergebnisse – Verarmung der proletarischen und kleinbürgerlichen Volksschichten, Rekordgewinne bei den Monopolen – spiegeln unsere schwierige Lage im Klassenkampf der Pandemiejahre – mit Gewerkschaften, in denen die Illusion der Klassenzusammenarbeit vorherrscht.

Das Interesse an Infrastruktur, also an Aufrechterhaltung und Entwicklung der gesellschaftlichen Ressourcen, ist gemeinsames Interesse der Kapitalistenklasse. Aber über Organisation und Kosten der Infrastruktur entscheiden die Interessen der Monopole, die gegeneinander im schärfsten Konkurrenzkampf stehen. Sie kämpfen dabei auch um Einfluss im Staat, der trotz gegenteiliger Propaganda immer stärker in die Wirtschaft eingreift. Das Thema Infrastruktur – Aufrechterhaltung des Systems – steht dabei in Konkurrenz zum Thema Rüstung – Aufstellung des deutschen Imperialismus bei der Neuaufteilung der Welt.

Internationale Widersprüche

Damit sind wir beim Krieg in der Ukraine, der ohne den Kampf um die Neuaufteilung nach dem Untergang der Sowjetunion nicht zu verstehen ist. Der Treiber des Kampfes ist die im Kapitalismus gesetzmäßig ungleiche Entwicklung der Produktivkräfte, im Imperialismus verstärkt durch die Konzentration von Kapital, Macht und Gewalt in der völlig aufgeteilten Welt. Mit dem Ende der Sowjetunion begann der gegenwärtig anhaltende Kampf der imperialistischen Großmächte um die Beute – getrieben vom US-Imperialismus, der seine hegemoniale Position verteidigt.

Die Entwicklung von drei Faktoren schränkt die Hegemonie des US-Imperialismus ein, der das nicht hinnehmen kann und damit die Widersprüche bis zur militärischen Auseinandersetzung zuspitzt:

  • Russland wehrt sich gegen den Abstieg zur Halbkolonie – geführt von einer nationalen Bourgeoisie mit der Regierung Putin.
  • Die EU strebt im Kampf um die Beute nach ökonomischer, politischer und militärischer Unabhängigkeit vom US-Imperialismus – unter Führung des deutschen und des mit ihm konkurrierenden französischen Imperialismus.
  • China macht seinen politischen Einfluss stärker geltend für eine friedliche Entwicklung in der Welt, um die eigene friedliche Entwicklung abzusichern.

„Sozialer Friede“ und Klassenzusammenarbeit

In Deutschland wird die Frage, wie viel für Infrastruktur und wie viel für Rüstung bereitsteht, solange zugunsten der Rüstung entschieden, wie der innere „soziale Friede“, die Ruhe an der Heimatfront, gesichert ist – durch die Hegemonie des Sozialdemokratismus in den Gewerkschaften.

Diese Hegemonie stützt sich auf die Gewerkschaftskollegen ohne Klassenperspektive – auf die Ideologie des Sozialdemokratismus, der Klassenzusammenarbeit.

Dazu gehören auch die Versprechen der Arbeiteraristokratie von Arbeitsplätzen und vom Standortvorteil durch technologische Führung in der Rüstungsindustrie, wie wir sie kennen vom Multiaufsichtsrat der Rüstungsindustrie und Hauptkassierer der IG Metall, Jürgen Kerner.

Der „soziale Friede“ ist heute aber weniger sicher als 2019. Auch ohne bewusste Klassenperspektive kommen Fragen auf wegen des Stillhaltens der Gewerkschaften bei offensichtlichem Missbrauch der Regierungsgewalt in der Pandemiesituation, wegen des auffälligen Segelns im Windschatten des US-Imperialismus im Ukraine-Krieg, der auffällig aus der Inflationsdiskussion ausgeblendet wird, und nicht zuletzt angesichts der obszönen Monopolprofite in der gesellschaftlichen Krisensituation. Diesen Fragen weichen die Gewerkschaftsführungen unter der Hegemonie der rechten Sozialdemokratie aus.

Bedeutung der Produktivkraftentwicklung

Bevor wir uns die aktuelle zyklische Entwicklung ansehen, müssen wir uns noch an die spezielle Krisensituation des deutschen Monopolkapitals erinnern, die durch die Produktivkraftentwicklung gekennzeichnet ist. Der deutsche Imperialismus ist trotz staatsmonopolistischer Eingriffe auf nationaler und EU-Ebene nicht in der Lage, die Entwicklung der Produktivkräfte zu planen im Zusammenhang mit den Möglichkeiten der internationalen Kooperation, wie es uns China vormacht. Im Gegensatz zu China richtet sich hierzulande nach wie vor die Entwicklung der Produktivkräfte auch gegen ihre unmittelbaren Produzenten. Die Arbeitsbedingungen verschlechtern sich – Verarmung, Entrechtung und Kriegsgefahr nehmen zu statt ab.

Der deutsche Imperialismus der Merkel-Ära hat sich in der Profitwelle der deutschen Monopole im Zug der Agendapolitik überschätzt, eine vom US-Imperialismus unabhängige Produktivkraftentwicklung organisieren zu können.

2015 hatte die Leitindustrie des deutschen Imperialismus, die Autoindustrie, von Nokia die Navigationssoftware gekauft, um nicht von Google abhängig zu werden. VW gründete eine konzerneigene Softwarefima, Mercedes kündigte ein eigenes Betriebssystem an. BMW und auch die weltweit führenden Zulieferer Bosch, ZF und Conti/Schaeffler investierten Milliardensummen in Softwareentwicklung. Siemens, führend in Maschinensteuerung, kündigte mit „MindSphere“ die Weltplattform für den Maschinenbau an. Aus dem Netzwerk von Siemens, SAP und anderen EU-Elektronikfirmen inklusive der französischen Atos sollte 2019 eine EU-Dateninfrastruktur namens Gaia-X entstehen, die verhindern sollte, dass sich die EU-Industrie den Cloud-Systemen der US-Konzerne wie Amazon unterwerfen muss.

Inzwischen wird bei den Autokonzernen von Reorganisation des Softwareaufbaus gesprochen, von weiterem Milliardenbedarf und auch von strategischen Kooperationen mit den US-Digitalmonopolen. Wie viel von der beschworenen Unabhängigkeit bleibt, wird sich zeigen. Auch Siemens macht inzwischen neue Pläne für eine Maschinenbau-Plattform in Kooperation mit dem kapitalmäßig etwa fünfmal so großen US-Chipgiganten Nvidia. Von Gaia-X ist nichts mehr zu hören, seit Amazon, Google, Microsoft und die CIA-nahe Palantir Mitglieder des Netzwerks geworden sind und – nach Aussagen von Mitgliedern – die unabhängige Entwicklung blockieren. Nachfolger sollen in Planung sein. Hier zeigt sich eine taktische Neuaufstellung, die auch für die Einschätzung des Zyklus von Bedeutung ist.
Im Kern geht es dem deutschen und französischen Imperialismus bei der digitalen Souveränität um Unabhängigkeit in der Rüstung, um bei der Neuverteilung der Welt mit dem US-Imperialismus auf gleicher Augenhöhe konkurrieren zu können. Dabei sieht Frankreich die Gefahr, vom deutschen Imperialismus dominiert zu werden, besonders seit sich dieser mit den Agendareformen einen Lohnkostenvorteil verschafft hat.

Stand im Krisenzyklus

2018 sahen wir den letzten Höhepunkt der deutschen Industrieproduktion, 2020 den Tiefpunkt. Nach Ende der Pandemiemaßnahmen zog die Nachfrage an, ohne einen Aufschwung auszulösen – die Industrieproduktion liegt noch unter dem letzten Höhepunkt.

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen ging 2021 weiter zurück. Auch nachdem die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht 2021 schrittweise ausgelaufen war, stieg die Zahl der Insolvenzanträge nicht über das Niveau vor der Pandemie an. Die Erwerbslosenzahlen bleiben weiter relativ stabil auf hohem Niveau. Allerdings entwickeln sich die einzelnen Arbeitsmärkte sehr ungleichmäßig: Während Digitalisierungsfachleute gesucht werden, finden Bauarbeiter oft keine Arbeitsplätze.

Die Umsatzrenditen der Unternehmen stiegen 2021 auf Höchststände. Kostensteigerungen wurden größtenteils an die Verbraucher weitergegeben – im Gegensatz zu den staatlichen Entlastungen. 2022 hielt das Wirtschaftswachstum trotz der Energieprobleme an. Die durch den Wirtschaftskrieg stark erhöhten Energiekosten und der Verlust des Russlandgeschäfts trafen die Branchen nicht gleichmäßig. Der Streit des politischen Personals der Monopole um Staatsgeld hinter den Kulissen ist meistens nur wahrnehmbar, wenn es dabei laut wird. Die 40 Dax-Monopole haben 2022 fast so hohe Profite wie im Rekordjahr 2021. Für 2023 erwarten sie etwa genauso viel.

Die Aussichten für einen echten Aufschwung 2023/24 in Deutschland sind gering: Die Schätzungen für das Wirtschaftswachstum 2023 liegen um 0 Prozent und für 2024 um 1 Prozent herum. Das Inlandswachstum wird weiter durch die sinkende Massenkaufkraft beschränkt. Die teilweise erfolgreichen Lohnkämpfe und die staatlichen oder staatlich subventionierten Einzelzahlungen werden die Inflation nicht ausgleichen. Die Bautätigkeit wird durch die hohen Zinsen gedämpft. Der Anschub für den Aufschwung aus den letzten Zyklen kam aus dem Export, vor allem nach China und den USA. Derzeit ist in China aber mit schwächerem Wachstum zu rechnen, in den USA steht möglicherweise eine Rezession an. Anschub für Wachstum kommt allenfalls aus dem steigenden Druck zur Erneuerung des Produktionsapparats, des fixen Kapitals.

Für diesen Anschub sollen weiter Staatsprogramme sorgen. Die „Zeitenwende“ lieferte den Auslöser, das von BDI und DGB schon 2019 geforderte 500-Milliarden-Programm und die gleichzeitig von der EU geforderten bis zu 1.000 Milliarden für den sogenannten „Green Deal“ umzusetzen. Der „Green Deal“ hat ebenso wenig mit Umweltschutz zu tun wie das US-Konkurrenzprogramm Inflation Reduction Act (IRA) mit Inflationsreduzierung. Die Milliarden der BRD- und der EU-Exekutive sollen Technologieentwicklungen anschieben, die notwendig sind, um die Mitsprache bei der Neuverteilung der Welt zu erzwingen.

Mit den 100 Milliarden für die „Zeitenwende“ hat sich die Staatspropaganda jetzt offen zum Militarismus bekannt. Die „Ehrlichkeit“ der „Zeitenwende“ erschwert aber das Ausblenden der Frage „Butter oder Kanonen“, das für den „sozialen Frieden“ so wichtig ist – besonders in der seit 2021 steil ansteigenden und dann hartnäckig hohen Inflation.

Fraglich ist, ob der Anschub aus der Stagnation mit Staatsmilliarden gelingt, ohne die Inflation weiter anzuheizen. Dabei muss das Finanzsystem – angesichts einer kaum noch latenten Finanz- und Bankenkrise – stabil gehalten werden.

Rolle des Staates

Der Staat des deutschen Imperialismus bewegt sich dabei im aufgezeigten Umfeld in Widersprüchen.

Die Widersprüche erscheinen zunächst im staatlichen Vorfeld als Querelen der bürgerlichen Parteien, bei denen die Interessen meistens nicht direkt sichtbar sind: Die Monopole artikulieren ihre Interessen beziehungsweise Branchen- oder nationalen Interessen mit Personal ihres Vertrauens. Diese sollen aber im Staatsapparat der Monopole im Gesamtinteresse operieren.

Dem Wesen des entwickelten staatsmonopolistischen Kapitalismus in Deutschland entsprechend muss der Staat als geschäftsführender Ausschuss der Bourgeoisie deren Herrschaft insgesamt absichern – aber unter Vorrang höchstmöglicher Extraprofite der Monopole, die entscheidend sind im Kampf der imperialistischen Großmächte um die Neuverteilung. Lenin fasst das Zusammenwachsen der Monopole mit dem Staatsapparat so zusammen: „Die Finanzoligarchie spannt ein dichtes Netz von Abhängigkeitsverhältnissen über ausnahmslos alle ökonomischen und politischen Institutionen der modernen bürgerlichen Gesellschaft.“

Die Sicherung der Extraprofite „im Gesamtinteresse“ findet statt im vorher skizzierten Feld der Widersprüche, in dem der deutsche Imperialismus derzeit steht. Entscheidungen im Gesamtinteresse können sich trotz der engen Verbindung des Staatsapparats mit den Monopolen auch gegen die Interessen von Einzelmonopolen richten. Zu studieren war das an der Entscheidung, aus der Atomkraft auszusteigen und die temporäre Lücke durch mehr russisches Gas zu schließen. Spätestens die Nord-Stream-2-Diskussion ließ die Interessenvertreter ins Licht treten.

Zur Absicherung des Gesamtinteresses wird das Netz von Abhängigkeiten auch in die Institutionen der Konkurrenten hinein gespannt. Zum Beispiel weiß der stellvertretende Vorsitzende des Vereins „Atlantik-Brücke“, Norbert Röttgen von der CDU, den US-Imperialismus an seiner Seite, wenn er US-Fracking-Gas und die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine befürwortet und Emmanuel Macron aufs Schärfste rügt für seine Ideen der strategischen Unabhängigkeit von den USA. Er hat damit aber auch Unterstützung von Kleinbürgern, denen ein Widerstand gegen die USA zu riskant erscheint. Röttgen verlor im Kampf um den CDU-Vorsitz gegen Friedrich Merz, der als Ex-Deutschland-Chef zwar der US-Investmentgesellschaft BlackRock nahesteht, aber durch viele Aufsichtsratsposten in einem weiter gespannten Netz auch in die deutschen Monopole eingebunden ist und so die nationale Karte besser spielen kann. Auch René Obermann, Airbus, hat schon aus seiner Telekom-Zeit US-Erfahrung – allerdings eher als Konkurrent – und war vielleicht deshalb als Kontrolleur des deutsch-französischen Rüstungsriesen willkommen. Der Vorschlag, mit Hunderten von Milliarden die hochprofitable Wirtschaft anzukurbeln, kam aber nicht von Obermann – auch nicht vom Industrieverband allein –, sondern wurde vom BDI gemeinsam mit dem DGB vorgestellt und so immunisiert gegen organisierte Kritik von denen, auf die die Lasten abgeladen werden.

Ausgerufen wurde die „Zeitenwende“ zum richtigen Augenblick vom SPD-Kanzler Olaf Scholz, womit er das Land zwar an den Rand des Atomkriegs bringt, aber dem deutschen Imperialismus noch einmal Luft verschafft für den dritten Anlauf zum gleichberechtigten Kampf um die Beute als imperialistische Großmacht.

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"Butter oder Kanonen", UZ vom 9. Juni 2023



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