Vortragsreihe mit Hindernissen

Cancel-Kampagne gegen Helga Baumgarten

Wenn es um Palästina geht, sind deutsche Politiker, Journalisten und Akademiker schnell dabei, Skandale zu erfinden, wo keine sind. So geschehen zuletzt in Halle, nachdem dort am 27. Oktober die Politikwissenschaftlerin und Palästina-Expertin Helga Baumgarten aufgetreten war. Zunächst wurde ihr Vortrag mit maßlosen Auflagen belegt. Im Nachhinein warf die Rektorin der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) ihr „Einseitigkeit“ und „Unwissenschaftlichkeit“ vor und deutete gar an, sie habe antisemitische Aussagen getroffen.

Gestern anerkannt, heute verteufelt

Lange war Prof. Dr. Helga Baumgarten eine anerkannte Expertin im deutschen Sprachraum. Ihre Bücher erschienen bei Suhrkamp, Herder und Diederich, wurden von bürgerlichen Medien rezipiert und galten teilweise als Standardwerke. Daran änderte auch ihre Schmähung als „Hamas-Helga“ durch den Zionisten und Islamhasser Henryk Broder und, im Anschluss daran, durch „Bild“ ab 2005 zunächst nichts. Als sie jedoch am 12. Mai 2021, während des elftägigen Krieges Israels gegen Gaza, ein vierminütiges Interview im ZDF-Mittagsmagazin gab, war es plötzlich vorbei mit ihrem guten Ruf: Ihre Einordnung, wie es zu dieser erneuten Gewalteskalation kommen konnte, und ihre Forderung, Deutschland solle Israel auffordern, die Besetzung des Gaza-Streifens und der Westbank zu beenden, wurden von der Springer-Presse erneut als Verbreitung einer „Terroristen-Agenda“ dargestellt. Dieses Mal zogen die „seriösen“ bürgerlichen Medien mit. Ihre Bücher werden seither nicht nur weitgehend ignoriert. Die Verlage weigern sich trotz hoher Nachfrage, sie neu aufzulegen, weshalb der kleine schweizerische Gamila-Verlag einspringen musste.

Ihr neuestes Buch, das sie gemeinsam mit dem Völkerrechtler Norman Paech geschrieben hat, trägt den Titel „Völkermord in Gaza“ und erschien im März 2025 im österreichischen Promedia-Verlag. Darin zeichnen sie die historischen Hintergründe des Gaza-Aufstands vom 7. Oktober und des darauf folgenden israelischen Vernichtungskriegs nach und zeigen deren politische, humanitäre und völkerrechtliche Seiten auf. Teils im Team, teils einzeln stellen die beiden diesen Band seither auf diversen Veranstaltungen vor. Wegen einer Grippe muss Baumgartens aktuelle Herbst-Tour durch Deutschland teilweise online stattfinden. In diesem Zusammenhang wurde sie auch in Halle zugeschaltet.

Zensur und „Wahrheitsbeauftragte“

Bereits im Sommer dieses Jahres hatte sie dort gesprochen, und zwar unter freiem Himmel. Denn Universität, Gemeindehäuser und Kommune hatten ihr die Räume versagt. Die zweistündige Veranstaltung musste daher bei Nieselregen auf dem örtlichen Marktplatz stattfinden. Ein kleiner Kreis von Wissenschaftlern der MLU um Dr. Claudia Wittig wollte Baumgarten diesmal jedoch in die Hörsäle der Uni einladen.

Wie schon die Gruppe Students for Palestine vor ihnen stießen die Akademiker allerdings auf Abwehr der Universitätsleitung. Rektorin Claudia Becker stellte einen Katalog an Vorschriften auf, der UZ vorliegt. Dazu zählte, dass die Students for Palestine nicht involviert sein dürfen. Weiter hieß es: „Das Existenzrecht Israels wird an keiner Stelle in Frage gestellt. Es fallen keine antisemitischen Äußerungen und es wird keine antisemitische Symbolik verwendet. Es findet keine Glorifizierung der Hamas statt. Die Hamas wird eindeutig als Terrororganisation benannt. Zum Gaza-Krieg wird zwingend seine Ursache (Massaker durch die Hamas am 07.10.2023) klar benannt.“ Mit anderen Worten: Becker verlangte, dass Baumgarten die israelische Kriegspropaganda nachplappern und ihre unabhängigen wissenschaftlichen wie politischen Standpunkte aufgegeben solle. Zudem forderte die Rektorin eine „wissenschaftliche Einordnung und Kommentierung“ des Vortrags durch eine dritte Person. Damit sprach sie der emeritierten Politikwissenschaftlerin implizit ihre wissenschaftliche Kompetenz ab und forderte eine Art „Wahrheitsinstanz“.

Alex, ein Palästina-Aktivist aus Halle, kritisierte diese Vorschriften der Uni-Leitung gegenüber UZ. „Die Uni-Leitung hat kein Problem damit, wenn an der MLU regelmäßig zionistische Veranstaltungen stattfinden, bei denen auch vor rassistischen und islamfeindlichen Inhalten nicht zurückgeschreckt wird. Aber hier wurde schon im Vorfeld ein ganzer Haufen nicht hinzunehmender Vorschriften und Einschränkungen auferlegt. Das zeigt, dass es der Rektorin nicht um Wissenschaftlichkeit und auch nicht um den Kampf gegen Rassismus geht, sondern um die Verteidigung der zionistischen deutschen Staatsräson.“

Distanzierung und Diffamierung

Obwohl Becker selbst nicht an der Veranstaltung teilnahm, scheinen ihr politisch ähnlich gesinnte Kreise zugetragen zu haben, dass angeblich gegen ihren Zensur-Katalog verstoßen worden sei. Jedenfalls veröffentlichte sie am 29. Oktober ein Statement, in dem sie erklärte, dass ihre „Auflagen“ nicht eingehalten worden seien. Dabei fällt auf, dass sie nicht nur keine konkreten Beispiele nennt. Sie lässt sich nicht einmal dazu herab, zu erklären, gegen welche Auflagen verstoßen worden sei. Beim Lesen des Statements kann man nur spekulieren, dass es um die drei von ihr aufgezählten Vorgaben ging, was bedeuten würde, dass „antisemitische Aussagen“ getätigt wurden und das „Existenzrecht Israels“ in Zweifel gezogen wurde. Von wem? Auch hier muss man als Leser mutmaßen. Im Zweifelsfall wohl von Baumgarten. Diese kommentiert gegenüber UZ: „Ich habe keinerlei Aussagen getroffen, die man auch nur entfernt als antisemitisch, also rassistisch bezeichnen könnte. Ganz im Gegenteil. Ich habe ganz dezidiert den Teil aus dem Urteil des Gaza-Tribunals vom 26. Oktober zitiert, demzufolge der Zionismus angegriffen werden müsse, aber keineswegs Juden oder das Judentum. Woher die Rektorin diese Informationen hat, ist mir schleierhaft.“

Neben diesen so vagen wie drastischen Anschuldigungen stellte Becker die „Redlichkeit“ der für die Veranstaltung zuständigen Claudia Wittig in Abrede. Das kann angesichts der Situation im deutschen Hochschulwesen, wo der Anteil befristeter Arbeitsverträge enorm hoch ist und Lehrende aufgrund pro-israelischer Bundestagsresolutionen und medialer Hetze unter enormen Anpassungsdruck stehen, nur als massiver Angriff auf die Kollegin und ihre berufliche Existenz gewertet werden.

Cancel-Kampagne geht weiter

Trotz dieser Zensur-Versuche im Vorhinein, der öffentlichen Angriffe im Nachgang und provokativer Nachfragen gewisser Teile des Publikums während der Veranstaltung werteten die Veranstalter das Event positiv aus: Es hätten etwa 300 Personen teilgenommen und viel lobendes Feedback gegeben. Bereits im vergangenen Mai musste eine Buchvorstellung von Baumgarten an der Universität Leipzig in zwei weitere Hörsäle übertragen werden, weil das Interesse so groß war. Auch ihre Vorträge an der Universität Göttingen und der Universität Marburg fanden vor großem Publikum statt und wurden sehr positiv aufgenommen. Die Universität Freiburg dagegen wollte – wie auch die MLU beim ersten Mal – ihre Räume nicht zur Verfügung stellen. Der Vortrag fand daher auch dort im Freien statt.

Die Kampagne gegen Baumgartens Vortragsreihe geht weiter. Nachdem sie in der Zwischenzeit zwei weitere Vorträge an der Ruhr-Universität Bochum und in Duisburg halten konnte, wurde der für den heutigen Abend geplanten, vom AStA der Universität Bremen organisierten Veranstaltung mit ihr von Rektorin Jutta Günther kurzfristig der Saal entzogen. Günther verwies auf einen Artikel mit dem Titel „Wer war Yahya Sinwar?“, den Baumgarten im Oktober 2024 auf der Website der Gesellschaft für Österreichisch-Arabische Beziehungen (GÖAB) veröffentlicht hatte. Die Organisatoren kündigten an, dass die Veranstaltung stattdessen in Räumlichkeiten des AStA auf dem Campus stattfinden werde.

Baumgarten selbst kommentiert die Kampagne in Deutschland gegen sie mit den Worten: „Man ist schockiert, wo die akademische Freiheit in Deutschland geblieben ist. Wir sind auf dem Weg einer vollständigen ‚Gleichschaltung‘: Beten wir nur noch runter, was uns von oben vorgegeben wird?“

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