Mit Geduld und langem Atem

Chinesische Wiedervereinigung

Die Volksrepublik China hat seit diesem Herbst einen Gedenktag mehr. Vor achtzig Jahren befreiten Antifaschisten „auf beiden Seiten der Taiwan-Straße“ die Inseln Penghu und Taiwan von ihren faschistischen Besatzern. Am 25. Oktober 1945 kapitulierte im Rathaus von Taipeh der japanische Kommandeur. Damit endete auch die fünfzig Jahre währende Kolonialherrschaft.

Am 24. Oktober dieses Jahres erklärte der Ständige Ausschuss des Nationalen Volkskongresses den 25. Oktober zum Gedenktag der Befreiung Taiwans, dem finalen Sieg des Widerstandskampfes des chinesischen Volkes gegen die japanisch-faschistische Aggression. Überall im Land soll künftig an diesem Tag an die Wiedergewinnung der Inseln erinnert werden. Auch in den Auslandsvertretungen der Volksrepublik. Die in Berlin lud an jenem Samstag in die Botschaft am Märkischen Ufer. Die Einladung erging kurzfristig, was wohl mit der Entscheidung in Beijing zusammenhing. Die war von der dortigen politischen Führung nämlich auch sehr kurzfristig getroffen worden, wie aus Botschaftskreisen zu hören war.

Bereits am 26. August war am gleichen Ort das Ende des Zweiten Weltkriegs in Asien feierlich begangen worden. Die Berliner Botschaft hatte in weiteren nachfolgenden Veranstaltungen den Beitrag der Chinesen bei der Niederringung der japanischen Okkupanten gewürdigt. Immerhin hatte kein anderes Volk so lange gegen den Faschismus gekämpft wie das chinesische – ganze vierzehn Jahre. Und in dieser kriegerischen Auseinandersetzung gab es unter den Chinesen 35 Millionen Opfer. Dieser Blutzoll war der höchste, den ein Volk im weltweiten Kampf gegen den Faschismus zahlte.
Wie Deutschland 1939 in Gleiwitz hatten die Japaner 1931 einen Überfall auf die Südmandschurische Eisenbahn bei Mukden inszeniert. Auf dieser Strecke beförderte die Kolonialmacht Rohstoffe aus der Mandschurei nach Korea, wo sie nach Japan verschifft wurden. Den „Anschlag“ am 29. Dezember 1931 nahm die dort stationierte japanische Kwantung-Armee zum Anlass, loszuschlagen. Zum einen eröffnete man damit den militärischen Kampf gegen die Republik China, zum anderen gründete Tokio den Satellitenstaat Mandschukuo.

Am 7. Juli 1937 wiederholten die Aggressoren einen solchen „Zwischenfall“ bei Peking. An der Marco-Polo-Brücke waren angeblich zwei japanische Soldaten von Chinesen entführt worden, daraufhin wurde aus allen Rohren „zurückgeschossen“. So begann der Zweite Weltkrieg in Asien. Denn: Nazideutschland und das japanische Kaiserreich waren seit dem Vorjahr durch den Antikominternpakt verbunden. Italien trat 1937 dieser faschistischen Allianz bei. Die sogenannten Achsenmächte hatten sich zu gegenseitiger Unterstützung verpflichtet.

Die KP Chinas rief im Juli 1937 alle Chinesen zum gemeinsamen Kampf gegen die faschistischen Aggressoren. Die Regierung unter Chiang Kai-shek schloss sich dieser Front an, es ging schließlich um die kollektive Verteidigung der Republik China gegen eine Invasion von außen. Die politischen Differenzen zwischen der nationalistischen Guomindang und den Kommunisten, die in der Vergangenheit auch gewaltsam ausgetragen worden waren, wurden im Interesse des einen Vaterlandes zurückgestellt. Dieses antifaschistische, patriotische Bündnis, mitunter als Zweite Einheitsfront bezeichnet, war erfolgreich. Als 1945 das Ziel erreicht war, zerbrach es jedoch, und die alten Händel begannen von vorn.

1949 konstituierte sich in Peking die Volksrepublik China, die das Erbe der 1912 in Nanjing gegründeten Republik unter Sun Yat-sen antrat. 1943 hatten sich US-Präsident Roosevelt, der britische Premier Churchill und Chiang Kai-shek in Kairo über die Kriegsziele verständigt und in der „Kairoer Erklärung“ fixiert. Ein Punkt war die Rückgabe aller chinesischen Territorien, die Japan geraubt hatte, inklusive der Mandschurei und der Insel Taiwan. Diese Festlegung wurde auch im Potsdamer Abkommen 1945 übernommen. Insofern war 1949 alles klar, die Volksrepublik China legitimer Rechtsnachfolger der Republik China. Dieser Tatsache trug die UNO 1971 Rechnung. Mit der Resolution 2758 der Generalversammlung wurde die Volksrepublik China als einzig rechtmäßiger Vertreter des chinesischen Volkes anerkannt und Ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrates. Das war nur konsequent: Damals stellte die Volksrepublik etwa ein Fünftel der Weltbevölkerung und war ohne Repräsentanz auf der Weltbühne, was mit diesem UNO-Votum endlich korrigiert wurde.

In China hatte man Geduld und einen langen Atem.

Chiang Kai-shek hatte sich 1949 nach Taiwan abgesetzt – mit 774 Kisten Gold aus der chinesischen Zentralbank und tausenden Kisten mit Material aus Archiven der Qing-Dynastie, darunter bis zu 230.000 Kunstwerke und Artefakte der kaiserlichen Sammlungen. Er reklamierte die Rechtsnachfolge für sich und meinte, für das dreihundert Mal größere Festlandchina sprechen zu dürfen. Zwei Drittel der UN-Mitgliedsstaaten sahen das nicht so. Und selbst US-Präsident Nixon – nachdem die Vereinigten Staaten in der UNO gegen die Aufnahme der Volksrepublik gestimmt hatten – bekannte sich bei seinem Besuch in Beijing 1972 zu einer Ein-China-Politik. „Als profilierter Antikommunist war Nixon jeglicher Sympathien mit Rotchina unverdächtig. Doch sein anti-ideologisches Verständnis von Außenpolitik trug ihm international Respekt ein“, urteilte der „Deutschlandfunk“ 50 Jahre nach Nixons Visite in der Volksrepublik. „Washington erkannte grundsätzlich den Anspruch Pekings auf eine Wiedervereinigung Festland-Chinas mit Taiwan an.“

Vom 28. bis 30. Oktober 1992 trafen sich Vertreter Beijings und Taipehs in Hongkong, das damals noch britische Kronkolonie war, um über diese Angelegenheit zu reden. Beide Seiten stimmten darin überein, dass es nur ein China gebe, wobei unterschiedliche Ansichten bestünden, was der Begriff „ein China“ bedeute. Es gab kein abschließendes Kommuniqué oder offizielles Protokoll, wohl aber eine acht Jahre später vom Vorsitzenden des Nationalen Sicherheitsrates von Taiwan kreierte Formel: „Konsens von 1992“. Auf den berufen sich heute beide Seiten. Die USA vermeiden es, diesen „Konsens“ explizit anzuerkennen – sie stellten ihn aber auch nicht in Abrede. In einem Interview mit der „Taipeh Times“ am 22. Oktober 2015 erklärte ein Sprecher des US-Außenministeriums, dass diese Frage von den beiden Parteien geklärt werden müsse. Die Vereinigten Staaten würden keinen Standpunkt in dieser Frage beziehen, ihr Interesse jedoch sei es, dass alle Lösungen von Problemen quer über die Taiwanstraße friedlich verliefen. („The US takes no position on the substance of such questions. Our interest is that any resolution of cross-strait issues be peaceful.“)

Am 26. August 2025 hatte Peking bei der Würdigung des Sieges über den japanischen Faschismus auf den gemeinsamen Kampf aller Kräfte des chinesischen Volkes verwiesen – also einschließlich der Guomindang. In einer Ausstellung im Chinesischen Kulturzentrum in Berlin („Weltgedächtnis und Friedensvision. Das Nanjing-Massaker 1937 in den Augen von John Rabe und anderen deutschen Zeitzeugen“) war auch deren Part explizit erwähnt worden. Nun also der Gedenktag, mit dem fortan alljährlich am 25. Oktober an die Befreiung – oder wie es auch genannt wurde: die Zurückeroberung – Taiwans als Teil Chinas erinnert werden soll.

Einer der Redner bei der Veranstaltung in der Botschaft verwies auf die deutsche Geschichte und die Haltung der Volksrepublik zur deutschen Vereinigung und leitete daraus den verständlichen Schluss ab, dass man in Deutschland die Wiedervereinigungsbestrebungen Festlandschinas mit Taiwan ähnlich zustimmend begleiten sollte. „Die Landsleute auf beiden Seiten der Taiwan-Straße“ hielten an der „Politik der friedlichen Wiedervereinigung“ fest, war auf der kurz zuvor in Peking erfolgten Gedenkveranstaltung erklärt worden. Gemeinsam werde man „die Sache der Wiedervereinigung des Mutterlandes vorantreiben“.

Beim Empfang in der Botschaft glänzte die deutsche Politik durch Abwesenheit. Vermutlich hatte man, dem Beispiel des Außenministers folgend, den Besuch verschoben. Das „anti-ideologische Verständnis von Außenpolitik“ eines Nixon scheint hierzulande gänzlich unbekannt.

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