Über kircheneigenen Reformbedarf

Das Beschweigen der Lämmer

Andi Nopilas

Religion macht nicht zwangsläufig dumm, aber sie hält dumm. Die beiden wesentlichen Fragen der Menschheit – die nach dem Sein und die nach dem Warum – sind bei ihr nämlich bereits beantwortet. Eine vernichtendere Kritik am Dreigespann aus Glauben, Kult und Kirche lässt sich vermutlich gar nicht formulieren. Denn aus philosophischer Sicht sind selbsterklärende Muster nicht nur eine Beleidigung für Wesen, die zu einer eigenen und freien Denkleistung fähig sind, sondern sie sind auch unwissenschaftlich, weil sie den Gottesbeweis als Zirkelschluss führen.

Da Glaubensfragen und rationale Debatten unvereinbar sind, neigt man dazu, das Dorf zu meiden, in dem die Kirche gern gelassen wird. Aber Revolutionäre müssen sich mit der Kirche auseinandersetzen, weil viele Menschen religiös beeinflusst sind. Dieser Einfluss wirkt unabhängig davon, ob diese Menschen (noch) gläubig sind oder nicht.

Dabei ist es zweitrangig, ob sie mehr an ihrem Glauben oder der Institution hängen. Nehmen wir die Homosexuellen, die sich über die päpstliche Entscheidung empören, nicht von Priestern gesegnet werden zu dürfen; nehmen wir die Frauen-Reformbewegung „Maria 2.0“, der es ein Anliegen ist, Frauen in die gleichen klerikalen Positionen zu bringen, die auch Männer erreichen können; nehmen wir die Forderung nach Kommunionempfang für Wiederverheiratete; nehmen wir den priesterlichen Protestmarsch nach Köln vom vergangenen Samstag, mit dem für einen Neuanfang in der Katholischen Kirche demonstriert wurde: Allen Initiativen ist die grundsätzliche Irrationalität Gläubiger gemein, alle wollen als Gleichberechtigte zur Kirche gehören – und allen liegt trotz aller Glaubensbekenntnisse vor allem der Wunsch zugrunde, die Institution zu retten, eine „bessere Kirche“ zu schaffen. Das gilt ähnlich auch für die Evangelische Kirche.

Die sexuellen Verbrechen an Kindern und Jugendlichen durch kirchliche Bedienstete und geistliche „Würdenträger“ rufen zu Recht heftigste Empörung hervor, aber sie dienen nicht minder als Vehikel für den Ausdruck allerlei Unbehagens; ein zusätzlicher Missbrauch. Der Reformdruck der Kirche wird Priesterinnen und viele Versprechen in Sachen Schutzbefohlener bringen. Wie im richtigen Leben: Die SPD schafft auf dem Krankenbett (ihrem, nicht dem des Kapitalismus) noch die Frauenquote für Unternehmensvorstände, und die vom Sex mit Kindern geläuterten Grünen übernehmen im Herbst das Moral- und Lifestyle-Ministerium.

Es geht also um Reform, nicht um Revolution. Da gilt es die Dinge dergestalt zu ändern, dass das Wesentliche unverändert bleibt; und der Showdown muss zwingend dem eigenen Drehbuch entstammen. Darin steht dem Bösen (dargestellt vom Kölner Kardinal Woelki) auch ein Guter (vertreten durch den Münchner Kardinal Marx) gegenüber. Der Gute bittet also am 21. Mai den Papst – selbst nur Stellvertreter – um Rücktrittserlaubnis, wohl um den Bösen zu gleicher Bitte zu bewegen. Der Papst lehnt ab, weil er den Guten noch braucht. Und der Böse sieht sich nicht angesprochen, weil er an der Reform mitwirken möchte und sich auch sonst für keinen schlechten Kerl hält, nur weil er Kinder missbrauchende Pfarrer gedeckt hat.

Ein Dilemma. Woelki wird sich durchaus auf Papst Franziskus berufen können, denn der hat Marx in seiner Antwort vom 10. Juni an Petrus erinnert, der – als er vor zweitausend Jahren um eine niedrigere Anstellung als die des Kirchenoberhaupts bat, da er ja Sünder sei – vom Allmächtigen zu hören bekam, er solle mal weiter die Schafe weiden.

Schon da lag der Allmächtige daneben wie sein inzwischen 307. Stellvertreter. Es mögen Schafe geweidet worden sein, aber zum eigenen Vorteil wurden sie immer auch ins Trockene gebracht. Vom Vergehen an den Lämmern ganz zu schweigen.

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"Das Beschweigen der Lämmer", UZ vom 18. Juni 2021



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