Überkapazitäten in Europa von 30 bis 40 Millionen Tonnen

De-Industrialisierung beim deutschen Stahl?

Von Bernd Müller

Mehr als die Hälfte der deutschen Stahlarbeiter waren am 11. April auf den Beinen. Ihre Gewerkschaft, die IG Metall, hatte sie für den bundesweiten Aktionstag „Stahl ist Zukunft“ mobilisiert, an dem die Arbeiter mit Segen der Wirtschaftsvereinigung Stahl und mit Hilfe der Konzerne für „faire“ Wirtschaftsbedingungen kämpfen sollten.

Wie üblich durfte es an einem solchen Tag nicht an Symbolen und markigen Worten fehlen. Da wurden mit einem Sarg die angeblich europaweit bedrohten 380 000 Arbeitsplätze zu Grabe getragen, ganz so, als stünde das Aus der gesamten europäischen Stahlproduktion kurz bevor. Politiker, führende Gewerkschafter und Konzernvertreter warnen einstimmig vor einer bevorstehenden De-Industrialisierung des Landes und versprechen, diese verhindern zu wollen. Die Arbeiter werden bei dem ganzen Spektakel mit flachen Argumenten abgespeist: Ihre Arbeitsplätze würden von zwei Seiten bedroht – von der Flut von Billigstahl aus China und von den Brüsseler Beamten, die das Klima schützen wollen. Und die Arbeiter klatschen, wie man es von ihnen erwartet, aber die Politiker, führenden Gewerkschafter und Konzernvertreter wissen sehr wohl, dass alles nur Theater ist.

Arbeitsplätze gegen Klimaschutz

Probleme hat die Stahlbranche mit Sicherheit. Branchenprimus Arcelor-Mittal hat erst kürzlich einen Rekordverlust von sieben Milliarden Euro bekannt gegeben und deshalb ein Sparprogramm aufgelegt, das auch die deutschen Standorte treffen wird: Ähnlich wie bei Thyssen-Krupp schon seit Jahren praktiziert, soll die Arbeitszeit verkürzt und an den Gehältern gespart werden.

Nun diskutiert die EU-Kommission, wie der europäische Emissionshandel reformiert und zu einem wirkungsvollen Instrument gemacht werden kann. Betroffen wäre dann nach 2020 freilich auch die Stahlbranche. Die IG Metall fürchtet dadurch allein für die deutschen Unternehmen eine Mehrbelastung von einer Milliarde Euro pro Jahr. Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) nannte das dann auch vor den Stahlarbeitern eine „Dummheit“. Dass er ebendiese Reform aber selbst immer wieder gefordert hat, behielt er dann doch lieber für sich.

Scheinheilig nannte das dann auch Hubert Weiger, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Wie kaum ein anderer Industriezweig habe die Stahlbranche bisher vom Emissionshandel profitiert. Das hängt mit der Vergabe der Emissionszertifikate zusammen. Die Industrie bekommt jährlich eine bestimmte Menge von ihnen kostenlos zugeteilt. Bläst ein Unternehmen dann mehr Kohlendioxid in die Luft, als durch die Zertifikate gedeckt ist, muss es welche über den Markt dazukaufen. Stößt ein Unternehmen weniger aus, kann es die überschüssigen Papiere verkaufen. Nun habe, so der BUND in einer Mitteilung, eine Auswertung der Daten der Deutschen Emissionshandelsstelle gezeigt, dass die deutsche Eisen- und Stahlindustrie „bislang stets alle Emissionen mit kostenlosen Zertifikaten decken“ konnte. Mehr noch: Die Branche konnte durch den Verkauf überschüssiger Zertifikate „zusätzliche Profite in Milliardenhöhe erwirtschaften“. Damit aber immer noch nicht genug: „Anders als in den meisten anderen EU-Staaten werden energieintensiven Unternehmen in Deutschland zusätzlich die CO2-Kosten im Strombezug erstattet – aus Mitteln für den Klimaschutz“, kritisierte Weiger. Allein die Eisen- und Stahlindustrie habe so im Jahr 2014 etwa 77 Millionen Euro und im Jahr 2015 weitere 45 Millionen Euro erhalten.

Die Umweltorganisation Germanwatch widerspricht ebenfalls den Darstellungen der Stahllobby. Auch die Behauptung, die chinesische Konkurrenz zahle keine Klimaabgabe, sei falsch. „Der Preis in den chinesischen CO2-Handelssystemen liegt ähnlich hoch wie in der EU – und wird sehr wahrscheinlich weiter steigen“, heißt es in einer Mitteilung.

Überkapazitäten

Unbestritten ist allerdings, dass es weltweit Überkapazitäten in der Stahlproduktion gibt und es deshalb zu einem verschärften Preiskampf kommt. Wolfgang Eder, Präsident des Weltstahlverbandes und Chef des österreichischen Stahlkonzerns VoestAlpine, bezifferte im September letzten Jahres laut einem Bericht des Handelsblatts die Überkapazitäten in Europa auf „30 bis 40 Millionen Tonnen“. Von der vorhandenen Gesamtkapazität von rund 210 Millionen Tonnen werde vermutlich nur ein Anteil von etwa 170 Millionen Tonnen tatsächlich gebraucht.

Neuordnung

Um sich dem härter werdenden Konkurrenzkampf stellen zu können, wird eine Neuordnung der europäischen Stahlindustrie ins Auge gefasst. Thyssen-Krupp-Chef Heinrich Hiesinger bestätigte einem Bericht des „Handelsblatts“ zufolge, dass er über eine Fusion seiner Stahlsparte mit einem Konkurrenten verhandelt. Neben Tata Steel und Salzgitter ist auch Weltmarktführer Arcelor-Mittal im Rennen.

Aber, so das Handelsblatt in seiner Ausgabe vom 15. April, „auch Thyssen-Krupp wird bei einem Zusammenschluss Produktionsstätten opfern müssen“. Als gefährdet gelten demnach vor allem kleinere Standorte wie Bochum, Siegen und Dortmund. Ob sie gerettet werden könnten, wenn Zölle gegen chinesische Importe verhängt oder die Reform des Emissionshandels verschoben wird, ist unwahrscheinlich angesichts der ohnehin bestehenden Überkapazitäten in Europa.

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"De-Industrialisierung beim deutschen Stahl?", UZ vom 22. April 2016



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