Im PapyRossa-Verlag erscheint in diesen Tagen der Sammelband „Die große Mobilisierung“ erschienen. In 20 Beiträgen gehen Autorinnen und Autoren der Entwicklung der Bundeswehr „von der Wiederbewaffnung bis zur Kriegstüchtigkeit“ nach. Von der inneren Struktur über die Kriegseinsätze im Ausland bis hin zu Fragen von Mentalität und Propaganda bietet der Band interessante – und in dieser Zeit notwendige – Einblicke in Funktionsweise und Funktion der Armee des deutschen Imperialismus. Wir dokumentieren an dieser Stelle den redaktionell gekürzten und leicht bearbeiteten Artikel „The New Spirit“ von Christoph Marischka.
Rückblickend war die Zeit um 2018 ein Wendepunkt in der deutschen Technologiepolitik einerseits und für die Bundeswehr andererseits. Nach zähen Verhandlungen legten SPD und CDU/CSU im Februar ihren Koalitionsvertrag vor und konstituierten kurz darauf ihre gemeinsame Regierung – weiterhin mit der bereits amtierenden Ursula von der Leyen als Verteidigungsministerin.
Wirtschafts- und technologiepolitisch setzte der Koalitionsvertrag auf „Disruption“. Wissenschaft, Kapital und Industrie sollten in neu aufzubauenden „Ökosystemen“ enger zusammenrücken, Startups als Treiber zukünftiger Innovationen stärker gefördert und die Marktbedingungen dereguliert werden. (…)
Militärpolitisch war Ursula von der Leyen bereits Ende 2013 mit dem Anspruch angetreten, in der Truppe und der Industrie auf einen „Kulturwandel“ hinzuarbeiten: Weg vom Image des alten Grundwehrdienstes („Durch-den-Schlamm-Robben“, brüllende Vorgesetzte), weg von straffen Hierarchien und unflexiblen Besoldungsstufen, weg von einer vermeintlich trägen Bürokratie im Beschaffungswesen und einer ebenfalls als träge und verstaubt wahrgenommenen Rüstungsindustrie, die aus den immergleichen Unternehmen und ihren anzugtragenden Lobbyisten zu bestehen schien. Als Katalysator dafür sollte bereits ab 2014 vor allem der Aufbau einer neuen Quasi-Teilstreitkraft, des Organisationsbereichs „Cyber- und Informationsraum“ (CIR), dienen. Letztlich gehörte jedoch auch die Diskussion um Kühlschränke in den Kasernenstuben und die „Wohlfühl-Bundeswehr“ zu diesem Konzept. (…)
„Move Fast and Break Things“
Ein Beispiel für den neuen Spirit ist der bereits im Frühjahr 2017 eingerichtete Cyber Innovation Hub (CIH), der als „Schnittstelle zur Gründerszene“ und zu „Innovationsakteuren“ fungieren und diese „Schnittstellenfunktion für den Aufbau eines neuen Netzwerks in Forschung, Wirtschaft und Militär nutzen“ soll. Ihr erster CEO, Marcel „Otto“ Yon, hatte zuvor ein Forschungszentrum geleitet und dann (angeblich) drei erfolgreiche Start-ups „zum Exit“ geführt. Er gab das ambitionierte Ziel aus, dass künftige Innovationen von der Idee nur noch 90 Tage brauchen sollten, bis sie „in der Hand der Soldaten“ liegen. Dafür sollten Hierarchien ausgeräumt und auf ganz kleiner Ebene ein neues, „agiles“, freihändiges Beschaffungswesen eingeführt werden.
Vor allem aber ging es auch um einen demonstrativ vollzogenen Kulturwandel bis hin zu Grußformeln, Haltung, Kleidung und nicht zuletzt der Sprache. Auch die Außendarstellung wurde flexibler und frecher. Kurzfristige Aufmerksamkeit erzielte der Hub etwa mit einem Meme, das neben dem Bild eines schießenden Leopard-Panzers das Logo des CIH enthielt und darunter das Motto von Mark Zuckerberg zitierte: „Move Fast and Break Things“ – bewege dich schnell und mache Dinge kaputt. Die gezielte Melange aus Militär- und Start-up-Kultur des CIH (in einer ehemaligen Fabriketage in einem Hinterhof in Berlin-Moabit, ausgestattet mit bunten Möbeln und Bänken aus Paletten) wirkte zunächst eher albern und skurril und führte zu manchem eher augenzwinkernden Beitrag in IT-Zeitschriften und Portalen der „Gründerszene“. Ganz nach dem Motto „All Publicity is Good Publicity“ dürfte jedoch gerade auch diese Berichterstattung ihre Wirkung gehabt haben:
Unter den Gründerinnen, Gründern und (Möchtegern-)Investoren hat sich so durchaus herumgesprochen, dass Bundeswehr und Rüstung auch und gerade für sie ein Markt werden könnten – und man dort nun hofiert wird. Der CIH vermittelte ganz bewusst das Gefühl, dass man für jede Idee mit „Verteidigungsbezug“ offen sei – je verrückter, desto besser. (…)
Symmetrie und KI
Der angestrebte Kulturwandel wurde also zugleich demonstrativ (und etwas unbeholfen wirkend) vorangetrieben und ging andererseits kleinteilig und geradezu langweilig in den Kapillaren der Bürokratie vonstatten. Als Katalysator wirkten zwei weitere Tendenzen dieser Jahre: der Diskurs um die jüngsten Durchbrüche bei sogenannter „Künstlicher Intelligenz“ und die zunehmende Ausrichtung der militärischen Planung auf einen „großen Krieg“, zumindest eine Auseinandersetzung zwischen technologisch und militärisch vergleichbaren (symmetrischen) Gegnern.
Beide Diskussionen wurden in den Jahren vor 2022 – dem russischen Einmarsch in die Ukraine und dem anschließenden Krieg – zumindest in der Öffentlichkeit getrennt geführt. „Maschinelles Lernen“ und „Künstliche Neuronale Netze“ als neue, hoffnungsvolle Ausformung der ziemlich leeren Phrase „Künstlicher Intelligenz“ wurden primär als zivile Entwicklung diskutiert, die Forderung nach intensiver staatlicher Förderung jedoch oft (im Kern eigentlich fast immer) geopolitisch begründet: Man müsse verhindern, von den USA und China abgehängt beziehungsweise von ihnen abhängig zu werden. (…)
In einer parallelen Entwicklung hat sich seit 2014 die strategische Ausrichtung von NATO und Bundeswehr – von der Öffentlichkeit zunächst kaum wahrgenommen – deutlich verschoben. Statt der relativ risikoarmen und asymmetrischen Auslandseinsätze rückte die „Landes- und Bündnisverteidigung“ (wieder) deutlich stärker in den Mittelpunkt – und damit die Aussicht auf einen großen, symmetrischen Krieg. Was das bedeutet, lässt sich unter anderem dem Jahresbericht Wehrwissenschaftliche Forschung des Bundesministeriums der Verteidigung (BMVg) von 2021 entnehmen, wo das Projekt „Der digitale Weg des Verwundeten“ so begründet wird: „Die Landes- und Bündnisverteidigung steht derzeit im Fokus der militärischen Zukunftsplanung. Kernelement der medizinischen Vorbereitungen ist die Versorgung von circa 1.000 Verwundeten am Tag. Dies stellt einen hohen logistischen Aufwand und eine hohe Arbeitsbelastung für das Fachpersonal entlang der einzelnen Versorgungsebenen dar. Künstliche Intelligenz (KI) kann hierbei ein wertvoller Partner sein.“
Bereits 2019 hatte das Amt für Heeresentwicklung der Bundeswehr ein „Positionspapier“ mit dem Titel „Künstliche Intelligenz in den Landstreitkräften“ veröffentlicht, das ebenfalls klar von der Konfrontation mit einem militärisch und technologisch hochgerüsteten (symmetrischen) Gegner ausging. Im Mittelpunkt des einleitenden Szenarios steht ein „TaUAS-Bataillon“ (Tactical Unmanned Aerial Systems, also kleinere Luftdrohnen), bestehend aus „vier Zügen mit jeweils 5000 TaUAS“: „Die Luken der Transportfahrzeuge öffnen sich und 5.000 UAS fliegen aus den Fahrzeugen. Sie formieren sich zu unterschiedlichen Schwärmen. Der Schwarm aus mehreren hundert Sensor-UAS erreicht gar eine Ausdehnung von über zwei Kilometern im Durchmesser und ist mit hochauflösenden Kameras ausgestattet. Andere Schwärme wiederum haben die Aufgabe(,) gegnerische Drohnen zu stören oder dienen als Relais zur Kommunikation der eigenen UAS. Andere sind mit kleinsten Wirkmitteln zum Angriff gegnerischer Sensorik und zur Markierung beziehungsweise Verfolgung von Zielen ausgestattet und zudem in Lage, eine verlegefähige UAS-Sperre zu bilden. Ein Counter-UAS-Schwarm ist darauf trainiert, feindliche UAS abzufangen und zu vernichten.“
Die hier angeführten Zitate sollen zweierlei verdeutlichen: Einerseits haben sich „Künstliche Intelligenz“ (im zweiten Falle in Form der Schwarmsteuerung) und die strategische Neuausrichtung auf symmetrische, große Kriege nicht nur zeitlich parallel entwickelt, sondern wurden vom deutschen Militär (zumindest an einigen Stellen) auch zusammen gedacht. Ein zentraler Begriff in der Start-up-Szene, wie auch zunehmend im Militär, ist dabei die „Skalierbarkeit“, also die Fähigkeit, die Produktion oder das eingesetzte Personal rasch um Größenordnungen zu steigern. Andererseits wird klar, dass diejenigen, die es wissen wollten, bereits damals absehen konnten, dass diese Skalierbarkeit im Kontext der „Landes- und Bündnisverteidigung“ künftig ein zentrales Kriterium sein würde oder könnte. (…)
Beispiel Drohnenwall
Im November 2024 brach die amtierende Regierung der Bundesrepublik auseinander, im Dezember wurden das Parlament formell aufgelöst und Neuwahlen für den 23. Februar 2025 angesetzt. Die Verhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD mündeten Anfang April in einen Koalitionsvertrag, am 6. März wurde Merz (nach Niederlage im ersten Wahlgang und spontaner Änderung der Geschäftsordnung durch Zweidrittelmehrheit) zum Bundeskanzler gewählt. (…)
Während der Koalitionsverhandlungen, als das Parlament und seine Ausschüsse nicht mehr zusammentraten (außer, um das Grundgesetz zu ändern), als in den Abgeordnetenbüros Kartons gepackt wurden, berichtete unter anderem „tagesschau.de“ von einem „Kurswechsel im Bundesverteidigungsministerium“, die „Bundeswehr soll Angriffsdrohnen bekommen“, die „Verträge würden in den nächsten Tagen unterzeichnet“. Die FAZ titelte kurz darauf: „Endlich bewaffnete Drohnen für die Bundeswehr“ (…). Moniert wurde hier (wie in vielen anderen Berichten zum Thema), dass diese Entscheidung erst nach „mehr als einem Jahrzehnt endloser Debatten“ gefällt worden wäre. Von wem und wie genau, wurde in keinem dieser Berichte weiter ausgeführt.
Auf die schriftliche Frage eines Bundestagsabgeordneten der „Linken“ im Verteidigungsausschuss nach Menge und Herstellern wurden selbst diese Informationen später als geheim eingestuft.
Schon in der entsprechenden Meldung bei „tagesschau.de“ wurde jedoch Gundbert Scherf zitiert und auf das Start-up Helsing verwiesen, die in jenen Tagen mit dem Vorschlag eines „Drohnenwalls“ hausieren gingen. Dieser solle aus zehntausenden Aufklärungs- und Kamikazedrohnen bestehen, die an der NATO-Ostflanke mit entsprechender KI- und Schwarmsteuerung eine Art fliegendes Minenfeld bilden sollten. Laut Scherf und anderen Vertretern von Rüstungs-Start-ups sei dies innerhalb eines Jahres realisierbar. Entsprechende Produktionskapazitäten bauten sie nach einigen Angaben zu diesem Zeitpunkt bereits auf. (…)
Der Begriff „Drohnenwall“ legte anschließend in den Medien eine steile Karriere hin. Oft wurde darüber berichtet, als wäre er bereits beschlossene Sache – obwohl Fachleute starke Zweifel äußerten, ob er (insbesondere die Schwarmsteuerung) technisch realisierbar und angesichts der schnellen Innovationszyklen rentabel wäre. (…)
Risikokapital, Profit und Strategie
Der „Drohnenwall“ verdeutlicht gut den neuen Spirit in Bundeswehr und Beschaffungswesen. Anstatt politische und strategische Überlegungen zur Ermittlung (vermeintlich) notwendiger Beschaffungen zu führen, die dann an die Industrie herangetragen werden, sind es nun windige Unternehmer und das dahinterstehende Risikokapital, die erst einmal Produktionskapazitäten aufbauen und dann die Politik (über willige Medien) unter Zugzwang setzen. Parlamentarische Kontrolle und Regulation werden mitunter schlicht umgangen oder ausgehebelt (so hat zum Beispiel das BMVg in seiner Entscheidung vom April 2025 Kamikazedrohnen kurzerhand als Munition eingestuft, für die geringere Zertifizierungsanforderungen gelten). Damit werden auch gesellschaftliche Diskussionen wie jene um „tödliche autonome Waffensysteme“ massiv erschwert: Ob und inwieweit Menschen bei den angeschafften Drohnen in kritische Entscheidungen eingebunden sind, ist allein dadurch unklar, dass die Hersteller und verwendeten Typen als „geheim“ eingestuft werden. Per Softwareupdate – wie es im Falle der aktuell diskutierten Helsing-Kamikazedrohnen angeblich etwa wöchentlich durch den Hersteller erfolgt – kann sich das ohnehin jederzeit ändern, offenbar abseits von politischer Kontrolle und vermutlich auch jenseits der Kontrolle durch die Bundeswehr selbst. Mit dem neuen Spirit begeben sich BMVg und Bundeswehr in eine gesteigerte Abhängigkeit von „Tech-Entrepreneuren“ und dem dahinterstehenden Kapital und machen uns alle damit nicht nur zum Spielball einer kriegstüchtigen „Sicherheitspolitik“ – sondern obendrein der Profitinteressen disruptiver Mindsets und Kapitalstrukturen.
AK Antimilitarismus (Hrsg.)
Die große Mobilisierung. Die Bundeswehr von der Wiederbewaffnung bis zur Kriegstüchtigkeit
208 Seiten, PapyRossa, 16,90 Euro
Erhältlich im UZ-Shop



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