Ende September hat die Informationsstelle Militarisierung (IMI) in Tübingen eine neue Studie mit dem Titel „Militärische Mobilität – Korridore der Aufrüstung“ veröffentlicht. Autor Jonathan Jokisch nimmt mögliche Kriegsszenarien zwischen der NATO und Russland in den Blick und verknüpft sie mit den geographischen Bedingungen in Europa.
Herausgekommen ist ein aufschlussreiches Papier, das die besondere Bedeutung der „NATO-Drehscheibe“ Deutschland für den Krieg belegt, aber auch den enormen Aufwand dokumentiert, der bereits heute betrieben wird. Mit freundlicher Genehmigung der IMI drucken wir an dieser Stelle einen leicht gekürzten Auszug aus der Studie, der sich mit den NATO-Korridoren nach Nord- und Osteuropa befasst. Die vollständige Studie ist auf der Website der IMI kostenlos nachzulesen.
Aufgrund seiner geographischen Lage ziehen sich fast alle Logistikwege in Europa durch Deutschland. Zum Beispiel gibt es nur fünf Schienenverbindungen aus Westeuropa und Osteuropa, die nicht in Deutschland liegen, denn der größte Teil führt eben durch die relativ flache Ebene zwischen Nord- beziehungsweise Ostsee und Alpen. Ein noch kleineres Nadelöhr bildet Deutschland in der Verbindung von Festlandeuropa mit Skandinavien, denn hier führt jeder Verkehr über Land durch Norddeutschland. Ebenso liegen an der Nordseeküste die bei weitem größten europäischen Häfen Rotterdam, Antwerpen (kaum 100 Kilometer von Deutschland entfernt) und Hamburg.
Diese geographisch zentrale Rolle zusammen mit der politisch zentralen Funktion der Bundesrepublik in der EU führten am 30. Januar 2024 zum Bekanntgeben des Ausbaus eines ersten militärischen Korridors aus den Niederlanden durch Deutschland nach Polen. Die belgische EU-Ratspräsidentschaft hatte dafür ein Treffen organisiert, bei dem die deutsche Vertretung mit den Verteidigungsministern beider Länder den militärischen Transitkorridor in einem offiziellen Akt beschloss. Dieser baut komplett auf der eigentlich zivilen Infrastruktur auf und bedeutete vor allem einen Ausbau für militärische Nutzbarkeit.
Dann kam es Schlag auf Schlag und im Juni 2024 vereinbarten Rumänien, Bulgarien und Griechenland den Ausbau eines südlichen Korridors. Der Ausbau von Korridoren in zwei Regionen ist damit verkündet, während der Nordkorridor zwar beübt wird, doch noch nicht offiziell bekannt gegeben ist.
Mit Korridoren sind die ungefähren Versorgungs- und Truppenverlegerouten gemeint, die im Kriegsfall mit Russland genutzt würden. Ein Korridor umfasst nicht nur Straßen, Schienen, See- oder Flughäfen, sondern ist ein Bündel aus mehreren dieser Verkehrsmittel, die genutzt werden könnten. Dabei plant die NATO mit präferierten Wegen und mit Wegen, die bei Ausfall, Sabotage oder Blockade genutzt werden könnten. Diese Korridore werden bei NATO- und Bundeswehrübungen jährlich trainiert und seit einigen Jahren durch Großprojekte ausgebaut.
Beim größten NATO-Manöver seit dem Kalten Krieg, das Anfang 2024 stattfand, wurde die Verlegung in die drei Regionen – Skandinavien, Baltikum und Schwarzes Meer – über vier Korridore das erste Mal innerhalb eines Manövers und teilweise parallel trainiert. Unter dem Namen „Steadfast Defender 24“ übten fast 100.000 Soldaten aus allen 32 NATO-Staaten gemeinsam das Verlegen und den Einsatz für die Konfrontation mit der Russischen Föderation. Am Ende bewertete die Bundeswehr den Einsatz, bei dem Deutschland zum ersten Mal als Logistik-Drehscheibe für ein NATO-Manöver dieses Ausmaßes fungierte, als Erfolg. Schon 2021 probte die NATO ähnliche Manöver, doch damals war nur die Hälfte der Staaten und ein Zehntel der Truppen von „Steadfast Defender 24“ beteiligt. Dieses Mal wurden Truppen aus allen NATO-Staaten von den USA bis zur Türkei in ganz Europa eingesetzt. Das Ziel der Übung: die möglichen Frontabschnitte im Krieg gegen Russland schnell zu erreichen.
Grand North
Der nördlichste Korridor führt aus Deutschland nach Skandinavien, denn hier grenzen Finnland und Norwegen an russisches Territorium. In dieser Region liegt zusätzlich noch einer der wichtigsten russischen Häfen, Murmansk, keine 100 Kilometer vom nächsten NATO-Staat entfernt. Dieser ist für Russland unabdingbar, denn es ist der einzige eisfreie russische Tiefwasserhafen in Europa, dessen Zugang zum Mittelmeer und Atlantik in einem Krieg nicht verschlossen wäre. Ihren Korridor nach Norden, über den sie nach Skandinavien mit Schiff, Bahn und Flugzeug Material und Soldaten bringen will, nennt die Bundeswehr „Grand North“.
Bei „Steadfast Defender 24“ erfolgte die Verlegung hauptsächlich über den Seeweg, wobei unter der Führung von Großbritannien neun weitere NATO-Staaten, darunter Deutschland, teilnahmen. Die Truppen und Fahrzeuge aus Süddeutschland wurden per Zug nach Emden und von dort per Schiff an die Nordküste Norwegens verlegt. Doch die Bundeswehr beabsichtigt auch den Landweg zu nutzen. Dieser führt vorbei an Hamburg oder Lübeck durch Schleswig-Holstein zu Dänemarks Öresundbrücke nach Schweden. Eine zweite Möglichkeit, um noch schneller von Hamburg zur Öresundbrücke zu gelangen, ist der im Bau befindliche Fehmarnbelttunnel. Schon jetzt ist dieser Weg circa dreimal so schnell wie die Verlegung per Schiff. (…)
Die Projekte hoch im Norden stechen hervor, da hier bisher wenig über die konkreten Bedrohungsszenarien bekannt ist. Hier wird zum Beispiel in Lappland die E75 um- und ausgebaut sowie eine Brücke erneuert, damit militärischer Verkehr reibungslos möglich ist. Die beiden Projekte zeigen, dass sich ebenso auf einen Konflikt im Norden Finnlands vorbereitet wird. Doch auf finnischer Seite gibt es hier keine strategisch wichtigen Punkte zu verteidigen. Auf russischer Seite verläuft nur 300 Kilometer östlich die strategisch wichtige Eisenbahnverbindung nach Murmansk, ohne die die Hafenstadt vollständig abgeschnitten wäre.
Grand Quadriga
In der Mitte Europas liegen die beiden Korridore „Grand Quadriga“ und „Grand Central“. Die NATO betrachtet das Baltikum als die eigene Achillesferse, die sehr schwer zu verteidigen ist. Um die notwendige Logistik zu ermöglichen, werden gleich zwei separate Korridore vorbereitet und beübt. Der Weg über die Ostsee wurde bei der Übung „Quadriga 25“ trainiert. Diese ist eine Folgeübung der in den letzten beiden Jahren durchgeführten Logistikübungen „Air Defender 23“ und „Quadriga 24“ mit einem diesjährigen Fokus auf die Verlegung per Schiff. Dabei kamen 8.000 deutsche Soldaten zum Einsatz. Es beteiligten sich zwar 13 weitere Staaten am Manöver, doch das Kommando lag in Rostock bei der deutschen Marine.
Schwere Verbände wurden laut Bundeswehr aus Sachsen und Brandenburg über die A19 nach Rostock gebracht und dort auf zivile Schiffe verladen. Die beiden zivilen Roll-on-Roll-off-Schiffe „Britannia Seaways“ und „Ark Germania“ unter dänischer Flagge waren Teil des Verbands, um die circa 1.000 Fahrzeuge der Bundeswehr über die Ostsee nach Klaipeda in Litauen zu bringen. Dort sollen sie an weiteren Übungen teilnehmen und zu den schon stationierten deutschen Soldaten in Pabrade dazustoßen.
Bei dieser Route über die Ostsee ist es plausibel, dass die NATO von einem erheblichen Risiko durch Raketen aus der russischen Region Kaliningrad ausgeht, weswegen der Landkorridor „Grand Central“ priorisiert wird.
Bei der Übung in diesem Jahr wurde zusätzlich zur Logistik ebenso die zivil-militärische Zusammenarbeit (ZMZ) geübt. Im Rostocker Hafen war die militärische Sicherung des Geländes Teil der Verlegung. In Hamburg gibt es im Bereich ZMZ die sehr spannende Übung „Red Storm Bravo“ Ende September 2025, bei der Mitarbeiter von Polizei, Feuerwehr, THW, Airbus und der Hamburg Port Authority gemeinsam die Verlegung von Truppen und Gerät durch die Stadt in den Hafen trainieren. Das antimilitaristische Bündnis „Kein NATO-Hafen!“ fasst die ZMZ zusammen: „In Schulen wird der Gehorsam bei Luftschutzübungen trainiert. Krankenhäuser sollen ihre Funktionsfähigkeit als erweiterte Feldlazarette unter Beweis stellen. Arbeitsämter sollen proben, ausfallende Arbeitskräfte für ‚lebens- und verteidigungsrelevante‘ Konzerne zu ersetzen und Bezirksämter zur Unterstützung der Militärlogistik herangezogen werden.“ Teil der realitätsnahen Übung ist es, eine Antikriegsdemonstration in Schach zu halten und schlussendlich die Militärkolonnen durch die Stadt zu ermöglichen.
In Rostock wurde ebenso die logistische ZMZ im Sanitätsdienst während des „Quadriga 25“-Manövers trainiert. Dutzende Schwerverletzte sollten reibungslos von einem Marineschiff durch die zivilen Rettungskräfte aufgenommen und versorgt werden. Spannend wird diese Rollenverteilung besonders für einen Konfliktfall, bei dem (…) von bis zu 1.000 Verletzten pro Tag ausgegangen wird, die alle durch Deutschland transportiert oder durch das hiesige Gesundheitssystem versorgt werden müssten.
Grand Central
Der zweite Ost-Korridor „Grand Central“ führt auf der Schiene oder über die Autobahn über Polen durch die Suwałki-Lücke ins Baltikum. Dieser Korridor soll es ermöglichen, innerhalb kürzester Zeit schwere Truppenverbände zu verlegen. Dabei würden, wie es bei der Übung „Steadfast Defender 24“ geschehen ist, amerikanische Truppen in den westeuropäischen Häfen anlanden und möglichst mit Zügen weitertransportiert werden. Die wichtigste Rolle spielt wahrscheinlich Antwerpen als größter europäischer Hafen. Hier werden zwei Projekte aus dem Aktionsplan Militärische Mobilität 2.0 umgesetzt.
Im Hafen, wo auch Tiefwasserschiffe anlegen können, wird der Bahnsteig auf 740 Meter erweitert. Dieser Standard wird ebenso durch das „Military Mobility“-Programm festgelegt und seit einigen Jahren ausgebaut, um eine effektive Verlegung zu ermöglichen. Die Zugstrecke von Antwerpen ins Baltikum wurde 2024 mit fünf Millionen Euro auf niederländischer und 50 Millionen Euro auf deutscher Seite durch den Aktionsplan 2.0 gefördert, um die Durchfahrt von 740-Meter-Zügen zu ermöglichen. Die Bahnstrecke wäre militärisch so wichtig, weil sie der einzige Landweg neben der Autobahn und der schnellste Weg in das Baltikum ist. Durch Deutschland führt die Bahnstrecke auf unterschiedlichen Wegen vor allem über Berlin, Leipzig oder Szczecin (Polen), wobei einzelne Strecken wegen Belastungsgrenzen eventuell nicht nutzbar sind.
In Polen würden die Züge entweder über Warschau, Olsztyn oder fünf Kilometer an der belarussischen Grenze vorbeifahren, doch schließlich führen alle Wege ins Baltikum über Suwałki.
In Polen und im Baltikum finanziert die EU das Megaprojekt Rail Baltica, um die russische Spurbreite in der Region durch die westeuropäische Schiene abzulösen. Rail Baltica wurde immer wieder aufgeschoben und die Kosten liegen heute beim Vierfachen des einstigen Preises. Das erste Mal wurde es 2001 beschlossen, doch es brauchte noch zwei Jahrzehnte und ein konkretes Bedrohungsszenario durch den Ukrainekrieg, damit die baltischen Staaten 2024 mit dem Bau begannen und 2025 erste Teilstrecken fertigstellten. Im Baltikum würde die Zugstrecke auf kürzestem Weg Richtung Tallinn, die Hauptstadt von Estland, führen. Dabei führt sie an Kaunas in Litauen sowie Riga in Estland und Pärnu in Estland vorbei. Die Bedeutung von Kaunas im südlichen Baltikum liegt im 20 Kilometer entfernten Militärstützpunkt Rukla, wo seit 2017 Truppen der Bundeswehr stationiert sind und seit 2025 der Großteil einer gesamten Brigade mit 4.800 Soldaten aufgestellt wird. Für deren dauerhaften Aufenthalt samt Familien wird zurzeit unter Hochdruck eine Kleinstadt errichtet. Weiter nördlich führt die Bahnstrecke noch an Riga vorbei, wobei ein Seitenarm zum Rigaer Flughafen gebaut wird. Dieser ist ein strategisch wichtiger Ort, da hier ein ganzer Teil des Flugplatzes für eine mögliche militärische Nutzung umgebaut wird. Das geschieht ebenso mit den Geldern für militärische Mobilität aus der CEF. Noch weiter nördlich liegt Estland, das auf eigene Faust versucht, die Rail Baltica möglichst schnell auszubauen.
Die Strecke auf Autobahnen und Landstraßen ins Baltikum wäre sehr ähnlich, soll jedoch durch die Streitkräfte vermieden werden, denn die Verlegung würde länger dauern und führt zu extrem hoher Abnutzung an den Fahrzeugen und der Fahrbahn. Da die NATO mit einem möglichen Kampf um die Suwałki-Lücke plant, wird wie beschrieben ebenso der Korridor „Grand Quadriga“ über die Ostsee ausgebaut.



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