Ende Mai erschien „Verlust und Erwartung. Erinnerungen Band 3“

Der Außerordentliche Parteitag der SED im Dezember 1989

Egon Krenz

Seine Leser ließ der letzte Generalsekretär der SED und Staatsratsvorsitzende der DDR länger warten als geplant. Jetzt liegt der letzte Band der Autobiografie von Egon Krenz vor. Dieser dritte Band wird sicher der spannendste Band, beschreibt Krenz doch hier als Insider den Untergang der SED und die Konterrevolution in der DDR. Wir veröffentlichen mit freundlicher Genehmigung von Verlag und Autor hier das Kapitel zum Außerordentlichen Parteitag der SED im Dezember 1989. Dieser beendete den Versuch von Krenz und Genossen, die sozialistische DDR zu reformieren und damit zu retten.

Am Vorabend des Sonderparteitages – er sollte am 8./9. Dezember in der Werner-Seelenbinder-Halle stattfinden – wurden Mitglieder und Kandidaten des Politbüros verhaftet, darunter auch Willi Stoph. Honecker entging dem Vollzug, weil er krank war. Jenen Spitzenfunktionären, die qua Amt und gemäß Statut am Parteitag teilnehmen mussten und auch konnten, schränkte man ihre Rechte ein. Auch ich sollte dort nicht reden dürfen.

Weggefährten rieten mir von der Teilnahme ab. Ich widersprach: „Ich bin gewählt, ich stelle mich.“

Von einer Seitentribüne der Dynamo-Sporthalle verfolgte ich die Debatte. Gekommen waren auch Margarete Müller und Inge Lange, Siegfried Lorenz, Kurt Hager und Heinz Keßler.

Die meisten Delegierten, das machten die Wortmeldungen deutlich, suchten konstruktiv nach Wegen aus der Krise der Partei. Zugleich aber herrschte Wut auf die abgelöste Führung. Das mischte sich mit Ratlosigkeit und Argwohn: Was ist gut, was richtig oder falsch? Fast alles in der Vergangenheit wurde in Zweifel gezogen und mit hitziger Kritik bedacht.

Bei der Wahl der neuen Führung, die jetzt Vorstand hieß, fielen selbst aufrechte, unbescholtene Genossen wie Sigmund Jähn, unser Fliegerkosmonaut, oder der Ex-Radweltmeister Täve Schur durch. Wer sollte denn die Partei führen, wenn nicht integre Persönlichkeiten wie diese? Es war zum Verzweifeln.

Manches, was in den Referaten dargelegt wurde, hätte ich in meiner – geplanten, aber ungehaltenen – Parteitagsrede auch gesagt. Vieles aber war emotional, kam „aus dem Bauch“, wurde weder mit Fakten belegt noch begründet. Und etliches, auch was die Zukunft der Partei betraf, war reichlich illusionär und naiv. Den meisten Delegierten schien nicht bewusst, dass sich ein weltgeschichtlicher Epochenwechsel anbahnte. Angesichts der globalen „Götterdämmerung“ empfand ich die Abrechnung mit der DDR-Vergangenheit ziemlich blauäugig. Es genügte nicht, den Focus auf die DDR zu richten, ohne die konterrevolutionären Entwicklungen in Polen, in Ungarn, in der So­wjet­union zu sehen. Das war im Wort- wie im übertragenen Sinne ziemlich beschränkt.

„Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“ hielt ich für eine falsche Strategie. Die Gefahr für die DDR erwuchs in dieser Zeit nicht aus dem „Stalinismus“, sondern aus der bereits in Ansätzen erkennbaren Umarmung des Westens, die uns die Luft abschnüren würde. Und außerdem: Was hieß „Stalinismus“? Für mich war und ist es ein dehnbarer, sehr weit auslegbarer Kampfbegriff. Meinte man damit die tragischen Repressalien in der So­wjet­union der dreißiger Jahre? Damit verharmloste man die Verbrechen, die niemand rechtfertigen konnte, dem die Sache des Sozialismus am Herzen lag. Fasste man unter „Stalinismus“ die gesamte Geschichte der UdSSR, unterschlug man damit zwangsläufig das historische Faktum, dass die So­wjet­union sich seit 1917 aus einem rückständigen Feudalstaat mit Analphabeten zu einer Weltmacht entwickelt hatte, die obendrein die entscheidenden Lasten im Kampf gegen den deutschen Faschismus getragen und den höchsten Preis von allen Völkern gezahlt hatte.

Solange in Deutschland und anderswo von der So­wjet­union verurteilte und gerichtete Nazi- und Kriegsverbrecher als „Opfer des Stalinismus“ charakterisiert werden, bleibt dieser Begriff für mich ein Instrument zur Verunglimpfung und Verleumdung des realen Sozialismus in Europa.

Daran änderte auch die Relativierung von Michael Schumann wenig, die er in seiner Rede auf der zweiten Sitzung des Sonderparteitages am 16./17. Dezember vortrug. Der Professor von der Potsdamer Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften war sich der Gefahr unzulässiger Gewichtung bewusst, wenn bei der Betrachtung der gesamten Geschichte der DDR und der SED der Scheinwerfer nur auf eine „bestimmte Achse unserer Entwicklung“ gerichtet würde. Dadurch „besteht die Gefahr eines Bildes der Vergangenheit, das nur eine einzige Farbe hat. Ein solches Bild wäre unwahr, und es wäre ungerecht.“ Und er fügte hinzu: „Die Bürger unseres Landes und die Mitglieder unserer Partei, die sich allzeit guten Glaubens mit Herz und Hand für den Sozialismus auf deutschem Boden eingesetzt haben, brauchen die Gewissheit, dass sie eine gute Spur in der Geschichte gezogen haben.“

An dieser Stelle gab es sehr lauten, zustimmenden Applaus.

Den Applaus, den der neue Parteivorsitzende Gregor Gysi am 24. Januar 1990 spendete, hielt ich allerdings für deplatziert. Er verfolgte, mit einer Zigarette im Mundwinkel, wie das Parteiabzeichen von der Fassade des nunmehr ehemaligen ZK-Gebäudes demontiert wurde. Das war mehr als die Entfernung des Abbilds jenes historischen Händedrucks, mit dem Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl 1946 die Vereinigung von SPD und KPD besiegelt hatten. Für mich war es der symbolische Ausdruck der Demontage nicht nur der SED, sondern auch der DDR.

In den Parteitagspausen in der Werner-Seelenbinder-Halle diskutierte ich mit Delegierten. Meine Antworten wurden nicht immer akzeptiert. Einmal trat eine Gruppe an mich heran und sagte: „Genosse Krenz, gründe mit uns die KPD. Dann können die anderen zur SPD überlaufen.“

So sehr ich mir eine Partei mit klarem Profil und erkennbarem Ziel wünschte, lehnte ich den Vorschlag ab. Ich war und bin kein Spalter.

Die Beantwortung der Frage, ob sich die SED-PDS auflösen oder für ihre Existenz kämpfen sollte, erfolgte ohne Gäste und Medien. Hans Modrow stritt unbeirrt für die Partei. Ohne sie wäre seine Regierung und die Position des Regierungschefs geschwächt. Sein Auftreten beeindruckte mich.

Doch dann behauptete er in der geschlossenen Sitzung, dass die 9. Tagung des Zentralkomitees am 18. Oktober, auf der ich zum Generalsekretär gewählt worden war, „in Wirklichkeit eine manipulierte Beratung“ gewesen sei. „Es ging sozusagen vom Herrscher zum Kronprinzen, von einer Hand demonstrativ in die andere.“

Hans Modrow wusste genau, dass es so nicht gewesen war. Dem Sturz Honeckers gingen Auseinandersetzungen im alten Politbüro voraus, in die er involviert gewesen war. Natürlich, das war auch mir bewusst, hatte es am 18. Oktober auch Inkonsequenzen gegeben, aber keine „Manipulation“. Wa­rum, so fragte ich mich, übernahm er die Sicht westlicher Medien?

Ich wollte zunächst um das Wort bitten, um zu widersprechen. Doch ich unterließ es: Es ging um die Existenz der Partei, um die DDR. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen Hans und mir und deren öffentliche Klärung war vor diesem Hintergrund kleinkariert und banal. Die Sache, für die Modrow und ich standen, verdiente es nicht, auf dem Altar der Eitelkeit geopfert zu werden.

Stattdessen fand sich eine andere „Opfergabe“. Dieter Klein, Prorektor für Gesellschaftswissenschaften der Humboldt-Universität und Mitglied der Berliner SED-Bezirksleitung, hatte ein Konzept des dritten Weges für die DDR entwickelt. „Wir kämpfen um einen Weg, der uns über den Kapitalismus hinaus und nicht in den administrativen Sozialismus zurückführt.“

Der Weg „über den Kapitalismus hinaus“ war eine weitere Sackgasse. Er erwies sich nicht als Vision, sondern als Illusion. Am Ende führte er in den Kapitalismus zurück. So weit dachten viele der Parteitagsdelegierten nicht.

Ich schon. Womit ich nicht behaupte, dass es die DDR noch gäbe, hätte der Parteitag einen anderen Verlauf genommen. Die Ursachen für das Ende lagen tiefer. So tief aber wurde nicht gegraben – und ein Parteitag hätte dazu auch nicht ausgereicht. Im Kern war es unser Unvermögen, die Unfähigkeit der sozialistischen Staaten Europas insgesamt, den Sozialismus zu einer lebenswerten, überzeugenden, mithin attraktiven Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft zu entwickeln. Wir hatten viel erreicht, aber lagen in vielen Positionen hinter unseren eigenen Idealen, selbst hinter bürgerlichen Vorstellungen zurück. Insofern war es nicht nur billig, sondern auch falsch, die Schuld am Scheitern einigen Personen anzulasten. Die Zuweisung hinderte daran, zu den wirklichen Ursachen vorzudringen. Und die waren sowohl innen- wie außenpolitischer Natur, also erheblich komplexer, als es auf diesem Parteitag auch nur andeutungsweise erfasst wurde.

Egon Krenz
Verlust und Erwartung
Erinnerungen Band 3, edition ost, Berlin, 352 Seiten, 26 Euro
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"Der Außerordentliche Parteitag der SED im Dezember 1989", UZ vom 13. Juni 2025



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