Zum 75. Jahrestag der Gründung der DDR

Vorbote einer neuen Gesellschaft

Egon Krenz

Auf der „Alternativen Einheitsfeier“ des Ostdeutschen Kuratoriums von Verbänden am 7. Oktober 2024 sprach in diesem Jahr Egon Krenz. Der einstige Staatschef der DDR beschäftigte sich in seiner Rede mit den Leistungen der DDR und der Situation im Osten Deutschlands heute. Wir dokumentieren – redaktionell geringfügig bearbeitet – Auszüge daraus.

Als mein Klassenlehrer uns in der 4. Klasse der Grundschule in Damgarten über die Gründung der DDR informierte, hielt er drei Punkte für bedeutsam. Ich notierte sie in meinem Hausaufgabenheft und kann mich deshalb noch ganz gut erinnern.

Erstens: Die Wahl des Tischlers und früheren Vorsitzenden der KPD, Wilhelm Pieck, zum Präsidenten und des Buchdruckers und früheren Vorsitzenden der SPD, Otto Grotewohl, zum Ministerpräsidenten sei Ausdruck dafür, dass die DDR ein Arbeiter-und-Bauern-Staat sein wolle und von Widerstandskämpfern gegen den Faschismus geleitet werde.

Zweitens: Die Regierung der DDR werde von einer Nationalen Front des Demokratischen Deutschland getragen. Von den 18 Ministern gehörten acht der SED, vier der CDU, drei der LDPD, je einer der DBD und der NDPD an, ein Regierungsmitglied war parteilos.

Und drittens: Volkskammer und Regierung seien nur provisorisch. Die neu geschaffene Verfassung der DDR erhob nämlich den Anspruch, dass ganz Deutschland eine unteilbare, demokratische Republik werden solle. Nicht die DDR spaltete Deutschland. Als sie gegründet wurde, war Deutschland längst gespalten durch die separate Währungsreform 1948 in den Westzonen und Westberlin sowie durch die Gründung der BRD.

Mir wurde das Glück zuteil, vom Gründungstag der DDR am 7. Oktober 1949 an bis heute alle DDR-Jubiläen erlebt zu haben.

Heute findet – und das macht mich wütend – ein rundes DDR-Jubiläum in einem Land statt, das regierungsamtlich „kriegstüchtig“ gemacht wird. Eine Aufgabe, die es in der DDR nie gab.

Friedensstaat

Die Rolle der DDR als deutscher Friedensstaat tritt in ihrer Bedeutung gerade in der gegenwärtigen Situation hervor, in der die Stimmung in diesem Lande von einer bisher nicht dagewesenen Kriegsrhetorik und einer den Interessen Deutschlands schadenden Russophobie dominiert wird.

In der DDR kannten die Bürger solche Propaganda nicht. Wohl auch deshalb ist das Verlangen im Osten Deutschlands nach Frieden und einem guten Verhältnis zu Russland, wie es bei den drei kürzlichen Landtagswahlen zum Ausdruck kam, so stark. Und deshalb muss die Regierung endlich zuhören und handeln: Wir wollen keine neuen Waffen für die Ukraine. Wir wollen Frieden. Nur das ist der Weg, um die AfD ernsthaft zu bekämpfen.

In Medien und auch in Erklärungen von Politikern aller Couleur heißt es immer wieder: Der Kalte Krieg sei 1990 zu Ende gewesen. Ich habe große Zweifel, ob er jemals wirklich zu Ende war.

Beendet war 1989/90 in Europa die Systemauseinandersetzung zwischen Sozialismus und Kapitalismus, nicht aber das Bestreben der USA, bestimmende Weltmacht zu sein, Russland als Großmacht auszuschalten und gute Beziehungen zwischen Deutschland und Russland zu verhindern.

1989/90 ging es den USA keineswegs – wie allgemein behauptet wird – um die deutsche Einheit. Diese war lediglich eine Möglichkeit, um die Streitkräfte der damaligen So­wjet­union aus dem Zentrum Europas zu drängen. Der Warschauer Vertrag wurde aufgelöst – die NATO blieb. Damit wurde eine völlig neue europäische Sicherheitssituation geschaffen – eine Situation, die bis heute nachwirkt und welche die eigentliche Ursache ist für gegenwärtige globalpolitische Auseinandersetzungen.

Die gegenwärtige Politik Deutschlands gegenüber Russland widerspricht objektiv den nationalen Interessen der Deutschen. Nur mit Russland und nie gegen das größte Flächenland der Erde wird es Frieden geben. Deutschland muss nicht „kriegstüchtig“ werden, sondern friedensfähig sein.

Deutschland muss sein Verhältnis zu Russland grundsätzlich ändern, wenn unsere Kinder und Kindeskinder in Frieden leben sollen. Das ist eine wichtige Lehre aus 40 Jahren DDR und auch eine Botschaft aus den drei vergangenen Landtagswahlen in Ostdeutschland.

Verordnete Sicht

Die Weltsicht der altbundesdeutschen politischen Elite und ihrer Erben lässt bis heute einen geschichtlich korrekten Blick auf die DDR nicht zu. Für sie ist der Kapitalismus das allein glücklich machende Gesellschaftssystem und ihr 1949 noch vor der DDR gegründeter Staat das Beste, was sie sich überhaupt vorstellen können. Dass es im Osten Menschen gab, die es besser fanden, ohne Kapitalisten zu leben, für die nicht der Ellenbogen dominierte, wenn es um menschliche Beziehungen ging, sondern das gesellschaftliche Miteinander – das will absolut nicht in den Kopf der DDR-Hasser.

Zum Zeitpunkt ihres Endes hatte die DDR rund 16 Millionen Einwohner. Inzwischen sind wir weniger, es gibt heute Millionen individuelle Sichten auf die DDR. Die Deutungshoheit darüber haben ausschließlich die Bürger selbst und nicht die sogenannte „Aufarbeitungsindustrie“ oder gar der Pfarrer Gauck mit seiner Gleichsetzung von 12 Jahren Nazibarbarei und 45 Nachkriegsjahren in Ostdeutschland beziehungsweise der DDR.

Das andere Deutschland

Die andere Geschichte Ostdeutschlands begann, als durch einen Volksentscheid in Sachsen am 30. Juni 1946 das Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes beschlossen worden war.

Was damals eine Mehrheit von 77,56 Prozent entschieden hatte, wuchs im Laufe der Jahre durch den Fleiß der Ostdeutschen und später der DDR-Bürger auf ein Volksvermögen der DDR von 1,74 Billionen Mark an Grundmitteln und 1,25 Billionen Mark im produktiven Bereich – ohne den Wert des Bodens und den Besitz von Immobilien im Ausland hinzuzurechnen.

Die BRD übernahm von der DDR

  • etwa 8.000 Betriebe,
  • 20 Milliarden Quadratmeter Agrarfläche,
  • 25 Milliarden Quadratmeter Immobilien, Forsten, Seen,
  • 40.000 Geschäfte und Gaststätten,
  • 615 Polikliniken,
  • 340 Betriebsambulatorien,
  • 5.500 Gemeindeschwesternstationen, Hotels, Ferienheime,
  • das beträchtliche Auslandsvermögen der DDR, Patente, Kulturgüter, geistiges Eigentum und manches mehr.

Das war die DDR wert, als sie von der BRD übernommen wurde. Der Besitzstand der DDR-Bevölkerung wurde innerhalb von drei Jahren von der Treuhand verscherbelt, ohne dass die Mehrheit der Bürger daran teilhatte.

Das einstige Volkseigentum ist zu 85 Prozent an Westdeutsche, zu 10 Prozent an internationale Investoren und zu nur knapp 5 Prozent an Ostdeutsche gegangen.

Heute gibt es in Ostdeutschland im Vergleich zu allen anderen europäischen Ländern eine diskriminierende Besonderheit: Von dem Eigentum, das sich auf ihrem Territorium befindet, gehört den Ostdeutschen am wenigsten.

Bis heute warten Ostdeutsche auf eine plausible Antwort auf die Frage: Wie konnte aus dem DDR-Besitz eine sogenannte Erblast in Höhe von 400 Milliarden DM entstehen?

Indem behauptet wird, die DDR sei bankrott gewesen, konnte man verdecken, dass sich der wirkliche Kollaps der DDR-Industrie erst nach dem Anschluss der DDR an die BRD ereignete.

Dazu ein Vergleich:

  • Am Ende des Ersten Weltkriegs betrug die Produktionsleistung 1918 gegenüber dem Vorkriegsstand von 1913 noch 57 Prozent.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg waren es 1946 im Verhältnis zum Vorkriegsstand von 1938 immerhin noch 42 Prozent.
  • 1992 – auf dem Höhepunkt der Privatisierung des Volkseigentums – waren es gegenüber dem vorletzten Jahr der DDR nur noch 31 Prozent.
  • Zu Recht sehen viele Ostdeutsche den Umgang mit ihrem Eigentum als Betrug.

Hier – und nicht bei irgendwelchen Nebensächlichkeiten – muss die Analyse ansetzen, wenn man der Frage nachgeht, warum viele Ostdeutsche kein Vertrauen in diesen Staat haben.

Wenn heutzutage Politiker und Medien, selbst der Bundespräsident, gönnerhaft zugestehen, die Lebensleistungen der Ostdeutschen anerkennen zu wollen, dann klingt das angesichts des bisherigen Umgangs mit DDR-Biografien, nach der Treuhand als Selbstbedienungsladen fürs Westkapital, nach Deindustrialisierung, nach Rückgabe vor Entschädigung, nach Schleifung volkseigener Betriebe und Landwirtschaftlicher Produktionsgenossenschaften, nach krimineller Veruntreuung von Fördergeldern Ost im Westen, nach Arbeitslosigkeit und Rentenstrafrecht – dann klingt das nach alldem mehr als heuchlerisch.

Feiertagsreden

Der Bundespräsident hat die Ostdeutschen zu mehr „Selbstbewusstsein“ aufgerufen. Eigentlich lobenswert – doch er hat die Wahrheit hinzuzufügen vergessen, dass die Regierenden der BRD, ihre Medien und Institutionen seit Jahrzehnten damit beschäftigt sind, das Selbstbewusstsein von DDR-Bürgern zu brechen.

Das Interesse der Herrschenden galt immer nur den DDR-Gegnern, den Flüchtlingen, den Antragstellern, den Menschen, die den westlichen Medien mehr glaubten als den DDR-Realitäten. Diese waren und sind weiterhin die Helden ihrer verdrehten Geschichte, sind ihre verdienten „Revolutionäre“.

Dass es Millionen selbstbewusste Bürger gab und noch gibt, die gern in der DDR lebten und von denen sehr viele dort auch ihr Vaterland sahen, die sich dafür eingesetzt haben, dass das Leben lebenswerter wurde – das hatte im antikommunistischen Denken der altbundesdeutschen Elite nie einen Platz.

Geschichtlicher Platz

Die Gründung der DDR 1949 lässt sich historisch nicht einordnen, ohne die Situation des Jahres 1945 zu beachten und die Nachkriegspolitik der So­wjet­union und ihrer Alliierten zu analysieren.

Wäre es nämlich nach dem Willen der So­wjet­union und der deutschen Kommunisten gegangen, wäre aus Deutschland – und zwar dem ganzen und nicht nur dem halben – „ein antifaschistische(s), demokratische(s) Regime, eine parlamentarisch-demokratische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk“ geworden.

So stand es im Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945. Und im Absatz davor hieß es: „Wir sind der Auffassung, dass der Weg, Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen, falsch wäre, denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen in Deutschland.“

Angesichts der bitteren Niederlage, die wir 1989/90 erlitten haben, höre ich gelegentlich die Frage: Ist es gerechtfertigt, trotz unserer Niederlage an gelebte 40 DDR-Jahre zu erinnern?

Um mir diese Frage zu beantworten, habe ich die Geschichte befragt. Der erste Arbeiterstaat der Welt war die Pariser Kommune. Sie hat 72 Tage überstanden und wurde blutig niedergeschlagen. In seiner Schrift „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ schrieb Karl Marx: „Das Paris der Arbeiter, mit seiner Kommune, wird ewig gefeiert werden als der ruhmvolle Vorbote einer neuen Gesellschaft.“

Ein solcher Vorbote ist für mich auch die DDR.

Trotz eigener Fehler und der Stärke unserer Feinde haben wir im Zentrum Europas beweisen können: Ein Leben ohne Kapitalisten ist auch im industrialisierten Deutschland möglich.

Wir haben der DDR viel von unserer Lebenskraft gegeben – in der Überzeugung, dem Guten in Deutschland zu dienen. Für die Bausteine unserer Politik fanden wir Wörter wie Bodenreform, Volkseigentum, Neulehrer, Arbeiter-und-Bauern-Fakultät, Wohnungsbauprogramm. Wir brachen das Bildungsprivileg, steckten Geld in Arbeitsplätze statt in die Arbeitslosigkeit. Wir duldeten keinen Neofaschismus und keinen Fremdenhass. Die Jugend ging nach der Ausbildung zur Arbeit und nicht zum Arbeitsamt. Sie traf sich in Jugendklubs, nicht an Tankstellen. Wir ließen keine Brücken in Jugoslawien oder Tanklastzüge in Afghanistan bombardieren. Wir führten nie einen Krieg.

Was bleibt

Im Jahre 35 einer größer gewordenen Bundesrepublik sind die Blicke nüchterner geworden. Die DDR taugt nicht als Aschenputtel deutscher Geschichte. Wenn ich an die Bedingungen denke, die sich für einen Arbeiter-und-Bauern-Staat im Zentrum Europas auftaten, bin ich stolz, dass wir überhaupt 40 Jahre durchhalten konnten.

Was die DDR war, warum sie gegründet wurde, welche historischen Errungenschaften ihr eigen waren, welche Stellung sie international einnahm, wie sich beide deutsche Staaten in einem kalten Bürgerkrieg immer am Rande eines möglichen Atomkriegs befanden, was die Gründe für die Niederlage der DDR waren und was von ihr bleiben wird – das sind grundsätzliche Fragen der deutschen Nachkriegsgeschichte, ja der europäischen und der Weltgeschichte und eben viel, viel mehr als eine „Fußnote der Geschichte“.

Man kann mir vorwerfen, ich idealisiere die DDR. Ich plädiere aber nur für eine Selbstverständlichkeit – nämlich dafür, dass Wissenschaftler, Politiker und Medien sich endlich um ein objektives und geschichtlich gerechtes Urteil über die DDR bemühen.

In diesem Sinne haben wir guten Grund, uns selbstbewusst der 40 DDR-Jahre zu erinnern. Wir wollten die Welt zum Guten verändern. Wir haben es leider nur für 40 Jahre schaffen können. Vieles ist unerledigt geblieben. Und dennoch waren wir Wegbereiter, haben die Saat gelegt. Die Ernte werden wir wahrscheinlich nicht mehr erleben.

Den Glauben aber, dass diese Welt mit Krieg und Ausbeutung so nicht bleiben kann, wie sie ist, und dass einst die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint – diesen Glauben kann uns niemand nehmen.

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"Vorbote einer neuen Gesellschaft", UZ vom 18. Oktober 2024



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