Ein Nachruf auf die Nachrufe auf Hermann Kant

Der schwierige Weg zu einem differenzierten Bild

Von Rüdiger Bernhardt

Der Tod Hermann Kants hat eine Vielzahl von Nachrufen ausgelöst, in Anbetracht der Rolle, die Kant in der DDR spielte, aber vor allem in Betrachtung seines umfangreichen Gesamtwerkes war das zu erwarten. Es war eine geeignete Gelegenheit, mit diesem Tod eine sachliche Beurteilung von Literatur und Kunst der DDR einzuleiten und allmählich alte Hassgesänge verklingen zu lassen. In einigen Nachrufen spürt man diese Bemühungen, so bei Jörg Schieke im MDR, der nicht nur das Schicksal Kants im Blick hat, sondern das Problem der Beziehung von Literatur und Politik. Selbst der Spiegel, der den Nachruf kleiner als seine früheren Artikel hielt, mäßigte sich anlässlich des Todes und gestand dem Autor zu, „das Alte überwinden zu wollen“ und einer „der besten deutschen Nachkriegsautoren“ zu sein, ehe er dann doch den Vorwurf der „menschenverachtenden Arroganz“ erhob. In der taz bezeichnete man ihn in einem respektvollen Nachruf als „Seiltänzer“ und „Spieler“; das ist eine durchaus mögliche Grundlage einer Verständigung, denn große Schriftsteller haben meist eine spielerische Begabung, die sie nutzen bis hin zu einem Doktor Faustus oder einem Glasperlenspiel oder einem Napoleonspiel wie uns die Beispiele Thomas Mann und Hermann Hesse, aber auch Christoph Hein zeigen. In diesem breiten Umfeld als deutscher Schriftsteller könnte man Hermann Kant sehen, seine „Begebenheit“. (Die Summe, 1987) war ein solches Spiel, ein „Sandkastenspiel“, in den Nachrufen nicht genannt.

Eine Vielzahl von Nachrufen pflegte den politischen Hass. Der ließ sich am einfachsten erhalten, wenn das literarische Werk, an dem man nicht vorüber konnte, von „politischen Tricksereien“ beeinträchtigt gesehen wurde (Lutz Rathenow im MDR) und Kant das Exempel des Feindes, das er nach 1989 geworden war, blieb. Dass man mit dieser Methode viele Schriftsteller vernichten kann, wurde ausgeblendet. Für vieles wurde Kant kritisiert, vor allem für den Ausschluss von Schriftstellern aus dem Schriftstellerverband.

In vielen Nachrufen wurde Unkenntnis,

um es vorsichtig zu sagen,

zum Prinzip erhoben.

Das wurde in einigen Nachrufen lang und breit ausgewalzt, ein Wort der Erklärung aber vermieden. Nicht genannt wurden die Bemühungen Kants um andere Autoren wie Werner Bräunig, was ihn in Konfrontationen brachte; auch um Loest und Rathenow mühte er sich, Rathenow nannte es wenigstens, um es sofort zu relativieren. Kaum erwähnt wurden die eigenen Schwierigkeiten mit seinen Büchern wie Impressum und Der Aufenthalt, die ihre Ursache in einem Literaturverständnis hatten, das auf ein neues Bewusstsein und die Erziehungsfunktion von Literatur zielte. War Kant ein Alleinherrscher oder haben nicht zahlreiche Schriftsteller und Politiker mitgewirkt und was waren die Gründe für dieses Vorgehen? Gab es dafür nicht Gesetzlichkeiten, die eingehalten werden mussten, sollte man die nicht befragen? Es wäre auch der geeignete Zeitpunkt gewesen, um den Legenden über ihn, wie sie Karl Corino trotz juristischer Niederlage verbreitete, zu begegnen. Kants Biografin Linde Salber (Nicht ohne Utopie, 2013) hat Corinos „Enthüllungen“ über Kant analysiert und unter Verwendung von Dokumenten als „Spitzellegende“ bezeichnet. Corino aber legte anlässlich des Todes im MDR nach, damit zeigte er einmal mehr seine moralische Qualität, die nicht einmal vor dem Tod Respekt zeigt. Er bezeichnete Hermann Kants Die Aula als „potemkinsches Dorf der sozialistischen Literatur“, das man nur mit „Grausen“ aus der Hand legen könne. Ursache sei, dass Kant die Unwahrheit geschrieben habe, es hätten mehr als drei Studenten der ABF die DDR verlassen und dann zählte Corino unter Verzicht auf zeitliche und politische Differenzierungen und auf politische Vorgänge wie die Amnestie in der Sowjetunion 1955 von den Zuchthäusern bis zu Workuta auf, was fehle. Was er nicht aufzählte war, wie viele Menschen durch die ABF erst einmal Bildung bekamen. Für seine Hasstirade nahm er sogar in Kauf, literaturwissenschaftliches Grundwissen, das er doch sicherlich einmal besessen hat, über den Haufen zu werfen, denn niemand hat den Roman als eine Dokumentation Verfolgter und Häftlinge gelesen, sondern als eine ironisch-spielerische Beschreibung der Bildungsbemühungen in der jungen DDR. Aber das, was der Roman bietet, wollte Corino nicht lesen. Ähnlich argumentierte auch der gründlicher gebildete Christian Eger (Mitteldeutsche Zeitung), indem er gegen Kant aufrechnete diejenigen, die sich „nicht etablieren konnten“ und andere. Doch versuchte er sich dann doch in Differenzierungen – Kant habe nach 1989 „die Konfrontation nicht gemieden“ –, wenn er auch eine Verbindung von Politik und Literatur ablehnte und damit historisch zahlreiche deutsche Schriftsteller in Frage stellte.

Auch die Aussage, „vielleicht sei er ein Halunke“, wie der Marktschreier einer zum Ausverkauf verkommenen Literatur Reich-Ranicki den Schriftsteller bezeichnet hatte, wurde mehrfach zitiert. Seine Verrisse, nicht nur über Kant, man erinnere sich an das eines Literaturkritikers unwürdige Zerreißen von Grass‘ Buch Ein weites Feld auf einem Spiegel-Titelblatt – zeigten zwar, dass er etwas von seinem Marktwert verstand, wenig aber von Literatur, die er nicht nach ihren inneren Gesetzen und gesellschaftlichen Ansprüchen, sondern nach seinem Bauchgefühl beurteilte und damit oft daneben lag, je linker ein Autor war, umso mehr.

In vielen Nachrufen wurde Unkenntnis, um es vorsichtig zu sagen, zum Prinzip erhoben. Eine davon ist, dass bis auf Ausnahmen die umfangreiche und gründliche Biografie Linde Salbers nicht zur Kenntnis genommen wurde. Und selbst Frank Quilitzsch (Thüringer Allgemeine), der als sachlicher und kenntnisreicher Autor bekannt ist, wies zwar darauf hin, dass diese Biografie „vielleicht“ einen neuen Blick öffne, ohne selbst diesen neuen Blick zu versuchen. Wie man Kant sehen kann zeigte in ersten Umrissen Eva Prase (Freie Presse). Sie versuchte einmal das Werk Kants einzuordnen (Die Aula „war der DDR-Roman schlechthin“) und seine weltanschaulichen Grundlagen zu bestimmen („Das alte Deutschland wollte ich nicht mehr.“). Dann wies sie Reich-Ranickis Urteile als „zu simpel“ zurück, gegründet auf die „Attitude derer, die im Westen Deutschlands lebend die Wahrheit gepachtet zu haben schienen“ und Kants Versuche um die historische Wahrheit, die „in Polen Unwillen“ erregte und Kant erneut Schwierigkeiten bereitete u. a. – Hier wurde die eingangs beschriebene Möglichkeit nicht vertan. Nimmt man, trotz aller kritischen Einwände, die Biografie von Linde Salber hinzu, ist zu hoffen, dass die historisch differenzierte Darstellung sich allmählich gegen die Corinos durchsetzen wird.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Der schwierige Weg zu einem differenzierten Bild", UZ vom 26. August 2016



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