Zu den bevorstehenden Tarifauseinandersetzungen

Die Kunst des Streikens

Am 1. und am 3. Februar streikten auf den britischen Inseln die in der dortigen Gewerkschaft ASLEF zusammengeschlossenen Lokführer und kündigten angesichts der Blockadehaltung der Kapitalseite laut „dpa“ einen „langen Arbeitskampf“ an. Ihr Vorsitzender Mike Whelan begründete das Reißen des Geduldsfadens bei vielen Mitgliedern laut „Handelsblatt“ mit den Worten: „Welche Möglichkeiten haben wir? Wenn man vier Jahre keine Gehaltserhöhung bekommen hat, wartet man dann fünf? Wartet man sechs oder sieben Jahre?“ Die ASLEF ist mit ihren 21.000 Mitgliedern keine große Gewerkschaft. Trotzdem schallte ihre Ankündigung eines langen Streiks herüber bis in hiesige Organe des deutschen Großkapitals. Sie haben keine Angst vor den 21.000 Menschen, aber offensichtlich Respekt. Sie beobachten genau, was da passiert.

Natürlich geht Philip Plickert, Kommentator der „FAZ“, nicht davon aus, dass auch nur einer von diesen 21.000 gelesen hat oder sich gar davon beeindrucken lässt, was er unter der Überschrift „Klassenkampf“ unter Hinweis auf die angebliche „Lohn-Preis-Spirale“ am 2. Februar predigte. Er endete mit dem Satz: „Maßvolle Tarifabschlüsse sind daher weiterhin das Gebot der Stunde.“ Die „FAZ“-Seite, auf der das steht, wird es noch nicht mal als Klopapier auf die britischen Inseln geschafft haben. Das weiß Plickert. Die Sorgen von „Handelsblatt“ und „FAZ“ zielen auf das heimische Publikum. Sie haben Angst, dass das britische oder auch das französische Beispiel in Deutschland Schule machen könnte. Sie haben Angst, dass die 11 Millionen Beschäftigten, deren Tarifverträge in diesem Jahr hierzulande auslaufen, sich ein Beispiel an der Kampfbereitschaft und Kampfkunst diesseits und jenseits des Kanals nehmen könnten.

Wir sollten alles dafür tun, dass ihre Furcht Berechtigung hat. In Großbritannien sind Lehrer, Lokführer, Krankenschwestern und andere Teile der Arbeiterklasse im Ausstand. Die konservative Regierung versucht, mit einem Antistreikgesetz, das das Feuern von Streikenden erlaubt, der Bewegung die Spitze abzubrechen. Als Antwort forderte die Gewerkschaft der Feuerwehrleute vom dortigen Gewerkschafts-Dachverband TUC einen Generalstreik gegen dieses Gesetz. Hunderttausende sind jetzt schon in Aufruhr und Bewegung und es sieht nicht nach einem Abflauen aus. In Frankreich protestierten zur Monatswende zweieinhalb Millionen gegen die geplante massive Beschneidung der Altersrenten und die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre. Aufgerufen hat dort ein Bündnis von acht Gewerkschaften des Landes. Es wäre die Rolle des DGB, sich vom Sozialpartnerschaftsgerede zu verabschieden und hierzulande ähnliches zu initiieren.

Streiken ist eine Kunst, deren Gelingen auch davon abhängt, wie weit die Unterstützung über die unmittelbar an den Arbeitsniederlegungen Beteiligten hinausgeht. Die Gegenseite weiß das. Sonst hätte Plickert nicht geschrieben: „Die vielen Arbeitskämpfe zehren mittlerweile an den Nerven der Briten, doch gibt es auch Verständnis für die Anliegen der Lehrer, Krankenschwestern und Eisenbahner.“ Das ist untertrieben. Eines der Geheimnisse der Erfolge von Paris und London liegt darin, dass es gelungen ist, den Streikenden das Gefühl zu geben, nicht nur im Recht zu sein. Sie spüren in ihrem Rücken weitere Tausende, die trotz der medialen Kettenhunde in den Redaktionsstuben hinter ihnen stehen. In einer solchen Stimmung werden – zu Recht – zweistellige Lohnforderungen nicht als „überzogen“, sondern als „genau richtig“ verstanden und können auch durchgesetzt werden.

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"Die Kunst des Streikens", UZ vom 10. Februar 2023



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