Im Kölner PapyRossa Verlag haben vier Autoren ein Buch vorgelegt, das in der Friedensbewegung nicht nur beachtet, sondern auch diskutiert werden sollte. Mit „Weltordnung im Umbruch – Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt“ legen Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe und Michael Brie einen Text vor, der die gegenwärtige Weltlage analysiert. Daraus entwickeln die Autoren Schlussfolgerungen für die fortschrittlichen Kräfte. Man muss nicht jede Einschätzung im Detail teilen, doch die Durchsetzung ihrer Stoßrichtung würde die Friedensbewegung stärken. Wir drucken mit freundlicher Genehmigung von Autoren und Verlag einen Auszug aus dem Kapitel „Die Linken, der Krieg und der Frieden“. Wir haben den Text redaktionell bearbeitet.
Eine wichtige Quelle von Kontroversen in der Friedensbewegung und der gesellschaftlichen Linken ist deren distanziertes Verhältnis zur Nation und zum National- beziehungsweise Territorialstaat und der daran geknüpften nationalen Souveränität. Ganz besonders die deutschen Linken und viele Liberale sind durch den exzessiven Nationalismus der deutschen Geschichte verständlicherweise ausgesprochen antinational eingestellt.
Nun soll hier keine Lanze für Nationalismus gebrochen werden, der als Ideologie der Überlegenheit des Eigenen über das Fremde oft genug eine verhängnisvolle Rolle gespielt und im deutschen Faschismus einen grauenhaften Gipfelpunkt erreicht hat. Im Aufstieg der Neuen Rechten, in der Politik der Trump-Regierung – aber auch so manchen ihrerseits nationalistischen Reaktionen darauf – zeigt er aktuell wieder sein hässliches Gesicht.
Territorialstaat
Eine realistische und damit eingriffsfähige Politik muss aber zur Kenntnis nehmen, dass der Territorialstaat nicht nur die weltweit dominierende Form der Vergesellschaftung ist, mit der sich die ganz große Mehrheit der Menschen identifiziert, sondern sie ist auch schlicht und einfach die effizienteste Organisationsform von Vergesellschaftung, die die Geschichte bisher hervorgebracht hat. Der Territorialstaat verfügt über materielle, politische und kulturelle Ressourcen sowie über Verfahren wie keine andere Organisationsform, auch nicht die EU.
Er ist daher auch die einzige Vergesellschaftungsform, die bisher liberale Demokratie und sozialstaatliche Verhältnisse ermöglicht hat. Damit diese funktionieren können, ist auch ein Mindestmaß an kollektivem Selbstverständnis, das heißt nationaler Identität notwendig. Der Gedanke der politischen Gleichheit aller Staatsbürger und einer sozialstaatlichen Solidarität ist nur auf der Grundlage eines gewissen Gemeinschaftsverständnisses zu verwirklichen. Daraus kann auch ein linker Patriotismus erwachsen, der sich aus der Bereitschaft speist, den eigenen Staat sozial, ökologisch und friedenspolitisch mitzugestalten, ganz im Sinne von Brechts Kinderhymne, in der es heißt:
„Und weil wir dies Land verbessern, lieben und beschirmen wir‘s.
Und das Liebste mag‘s uns scheinen so wie andern Völkern ihr‘s.“
Es ist eine Illusion, der auch manche Linke anhängen, die europäische Integration, die „immer engere Union der europäischen Völker“ (Präambel des Lissabon-Vertrags) hin zu den „Vereinigten Staaten von Europa“, sei die Überwindung des Territorialstaats und die Verwirklichung eines emanzipatorischen Internationalismus. Tatsächlich wäre das nichts anderes als die Reproduktion des klassischen Territorialstaats, wenn auch im Großformat. Das Vorbild dafür, die Vereinigten Staaten von Amerika, gibt es ja bereits seit 250 Jahren, und da kann von einer Überwindung des Nationalismus absolut nicht die Rede sein, wie zuletzt wieder das Trumpsche MAGA zeigt. Schon die Vorreiterrolle der EU bei der Durchsetzung des Neoliberalismus in den 1990er Jahren und erst recht ihre Rolle als Taktgeber der gegenwärtigen Militarisierung zeigen, dass diese Form von Integration kein emanzipatorisches Projekt ist.
Ob der Territorialstaat das letzte Wort der Geschichte ist, sei dahingestellt. Aber selbst wenn man seine Überwindung anstrebt, wie dies Visionen von einem kosmopolitischen Weltstaat oder linke Utopien einer sozialistischen Weltrepublik tun, ist das für die akuten Probleme irrelevant, da in unserer Gegenwart und für die überschaubare Zukunft der Territorialstaat das wichtigste Feld der Auseinandersetzung für eine friedensorientierte Politik ist.
Völkerrecht
Vor allem aber ist der Territorialstaat die Basiseinheit der UN-Charta und des darauf aufbauenden Völkerrechts. Darin haben Souveränität und Nichteinmischung in innere Verhältnisse einen zentralen Stellenwert. Das ist eine Reaktion auf die lange Geschichte der Unterwerfung und Ausbeutung Afrikas, Asiens und Lateinamerikas durch Kolonialismus, Imperialismus und Neokolonialismus. Dass das für die Unterdrücker von gestern und heute keine allzu große Rolle spielt, ist bezeichnend. Ihre dunkle Vergangenheit ist ihnen peinlich. Dabei sind die Folgen in den ehemaligen Kolonien auch heute noch massiv präsent, durch Rückstand in der wirtschaftlichen Entwicklung, Konflikte als Resultat willkürlicher Grenzziehungen der Kolonialherren, Infrastrukturen, ausgerichtet an den Interessen der Kolonialisten, oder eine Arbeitsteilung in der Weltwirtschaft, die viele Länder des Südens zu Rohstofflieferanten degradiert hat.
Auf Seiten der Opfer im Globalen Süden dagegen hat man all das nicht vergessen. Dort ist das Insistieren auf nationaler Souveränität nicht Ausdruck von Überlegenheitsdenken, sondern Ausdruck davon, endlich ohne Bevormundung über das eigene Schicksal bestimmen zu können.
Gleichzeitig aber ist man im Westen gegenüber vermeintlicher oder tatsächlicher Einmischung von außen hyperempfindlich – vor allem, wenn Russland oder China verdächtigt werden. Aber auch der Auftritt von US-Vizepräsident Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2025, ebenso wie die Unterstützung anderer US-Politiker für die AfD, vermitteln eine Ahnung davon, wie sich die Einmischung ausländischer Mächte in die eigenen inneren Angelegenheiten anfühlt.
Souveränität?
Die Themen staatliche Souveränität und Nation spielen auch eine große Rolle in zahlreichen Konflikten. Ein Blick in die Geschichte von Kriegen zeigt, dass hier eine der häufigsten Ursachen für bewaffnete Gewaltanwendung in Bürgerkriegen liegt. Werden sie internationalisiert, können sie auch zu zwischenstaatlichen Kriegen führen. Weltpolitisch besonders gravierende Fälle sind gegenwärtig die folgenden Konflikte.
Beispiel Taiwan
Taiwan, das völkerrechtlich zu China gehört, von der UNO und auch dem Westen unter dem Label „Ein-China-Politik“ als Teil der Volksrepublik anerkannt ist, de facto aber als eigener Staat agiert. Mit zunehmender Konfrontation zwischen China, den USA und – in deren Kielwasser – vielen anderen westlichen Staaten werden die Bestrebungen Taiwans, sich von der Volksrepublik zu lösen, vom Westen verstärkt unterstützt. Sei es durch provokative Besuche wie jenem der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, im August 2022, sei es durch Schritte zur formalen Anerkennung – wie die Eröffnung einer taiwanesischen Vertretung durch das EU-Mitglied Litauen oder durch massive Militärhilfe der USA.
Beispiel Palästina
Palästina, dem völkerrechtlich ein eigener Staat im Westjordanland und in Gaza zusteht, was auch von 147 Staaten offiziell anerkannt ist. Israel verhindert das seit Jahrzehnten mit militärischen Mitteln. Bereits im Programm der Regierungspartei Likud von 1977 heißt es, man werde „Judäa und Samaria keiner ausländischen Verwaltung übergeben. (…) Zwischen dem Meer und dem Jordan wird es nur israelische Souveränität geben.“
Die völker- und menschenrechtswidrigen Gewaltexzesse Israels im Gazastreifen und die aggressive Siedlungspolitik im Westjordanland zielen darauf, das Leben für die Palästinenser so unerträglich zu machen, dass sie einer Umsiedlung in andere arabische Länder als dem kleineren Übel zustimmen. Ziel ist die Vertreibung großer Teile der palästinensischen Bevölkerung aus den von Israel besetzten Gebieten.
Beispiel Krim und Donbass
Der Anspruch auf nationale Selbstbestimmung in diesen Regionen war nicht die einzige, aber doch eine wichtige Komponente im Ursachengeflecht, das zum Ukraine-Krieg führte. Die Bevölkerung der Krim hatte bereits vor dem „Euro-Maidan“ und dem Umsturz von 2014 mehrere Anläufe zur Loslösung von der Ukraine unternommen, so bereits 1992 und noch einmal 1994 in einem Referendum, das allerdings auf Druck Kiews zurückgenommen werden musste. Auch Umfragen westlicher Institute kamen zu dem Ergebnis, dass die große Mehrheit der Krim-Bevölkerung für die Trennung von der Ukraine war. Dem in New York ansässigen Pew Research Center zufolge befürworteten in einer nach dem Referendum durchgeführten Umfrage 88 Prozent dessen Ergebnis, während es in der Westukraine 82 Prozent ablehnten. Und wenn sogar die Mehrheit der ukrainischen Schwarzmeerflotte, inklusive des Oberkommandierenden, also der Inkarnation nationaler Loyalität, überläuft, dann ist kaum eine massivere Absage an die Zugehörigkeit zur Ukraine denkbar. In den seit 2014 nicht mehr von Kiew kontrollierten Regionen des Donbass dürften die Werte für eine Loslösung von der Ukraine nicht ganz so hoch gewesen sein. Aber da die Bewegung zur Loslösung mit dem Amtsantritt von Präsident Poroschenko (2014 bis 2019) zu Terrorismus erklärt und Ziel militärischer Operationen Kiews wurde, dürften die Anhänger einer Zugehörigkeit zur Ukraine klar in der Minderheit sein.
Selbstbestimmungsrecht
Hier ist nicht der Ort, auf einzelne Konflikte im Detail einzugehen. Aber ungeachtet aller Unterschiede ist allen gemeinsam, dass nationale, ethnische, religiöse oder kulturelle Minderheiten Eigenständigkeit beziehungsweise staatliche Unabhängigkeit anstreben oder bereits durchgesetzt haben. Sie berufen sich dabei auf das Selbstbestimmungsrecht und protestieren – oft zu Recht – gegen Diskriminierung und Unterdrückung. Kommt es dann zur Eskalation, die in die Forderung nach Unabhängigkeit mündet, gerät dies in Gegensatz zum Prinzip der territorialen Integrität des Landes, von dem sie sich trennen möchten. Daraus entsteht dann schnell Konfrontation bis hin zum Krieg innerhalb des bisherigen Territorialstaats oder im Verhältnis zu Nachbarstaaten.
Wir haben es hier mit einem Widerspruch zwischen zwei verschiedenen Rechtsgütern zu tun: dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf staatlich-territoriale Integrität. Dabei gibt es kein völkerrechtlich anerkanntes Recht auf Loslösung von Gebieten, die mehrheitlich von Angehörigen einer ethnischen Minderheit bewohnt werden, aus einem Staat, sondern nur das Recht auf Wahrung der kulturellen Identität, das der jeweilige Staat respektieren muss. Nur im Falle des staatlich organisierten Völkermords kann durch Beschluss des UN-Sicherheitsrats militärisch eingegriffen werden.
Auslegungen
Allerdings hat der Internationale Gerichtshof (IGH), bei dem die UN-Vollversammlung nach der Unabhängigkeitserklärung des Kosovo 2008 ein Rechtsgutachten bestellt hatte, 2010 dezidiert geschrieben: „Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo am 17. Februar 2008 hat das Völkerrecht nicht verletzt.“ Die UN-Vollversammlung hat dem dann im September 2010 ihren Segen gegeben. Es handelt sich, wie gesagt, um ein Gutachten und kein Urteil. Der Vorgang zeigt aber, dass auch das Völkerrecht nicht immer klare Antworten auf die komplexen Konflikte geben kann und auch zu einem gewissen Grad abhängig von den machtpolitischen Kräfteverhältnissen im internationalen System ist.
Instrumentalisierung
Besonders brisant werden diese Konflikte infolge der geopolitischen Instrumentalisierung durch Dritte. Ein typisches Beispiel ist die Forderung des EU-Parlaments nach Sanktionen gegen China mit der Begründung, die Gruppe der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang würde diskriminiert; ein anderes sind Trumps Sanktionen gegen Südafrika mit der aus der Luft gegriffenen Begründung, die Weißen seien einem „Genozid“ ausgesetzt.
Die einseitige Auflösung eines Widerspruchs zwischen Rechtsgütern führt in der Regel nicht zur Konfliktlösung. Nur wenn eine Lösung der Komplexität der Konfliktursachen Rechnung trägt, besteht die Aussicht auf eine dauerhafte Befriedung. Emanzipatorische Friedenspolitik sollte sich bei diesem Problemtypus daher generell vor vorschnellen Urteilen hüten. Eine sorgfältige Analyse ist dabei unverzichtbar, denn ohne genaue Sachkenntnis kann man leicht Opfer von Desinformation und Propaganda werden. Nicht überall, wo Genozid draufsteht, ist auch Genozid drin!
Peter Wahl, Erhard Crome, Frank Deppe, Michael Brie
Weltordnung im Umbruch
Krieg und Frieden in einer multipolaren Welt
PapyRossa Verlag, Köln 2025, 171 Seiten, 14,90 Euro
Erhältlich unter uzshop.de