Die Verwandlung der Kommunikation in eine Ware verschafft dem Kapitalismus eine Fristverlängerung

Digitalisierung und Siechtum

Von Manfred Sohn

Kapitalismus ist die Gesellschaftsformation, in der alle menschlichen Bedürfnisse so umgeformt werden, dass eine Ware im Austausch gegen Geld die Voraussetzung zur Befriedigung dieses Bedürfnisses wird.

Menschen im Feudalismus, die oftmals ihr Leben lang nicht mit Geld in Berührung kamen, sammelten in solch sommerlichen Tagen wie denen in diesem Jahr ihre Himbeeren am Wegesrand, um sie alsbald zu verspeisen – Profit war aus diesen roten Früchten nicht zu erzielen. Sie gingen nicht in den kapitalistischen Warenkreislauf ein, sondern direkt in den Magen des Bauernlümmels. Erst nach der Trennung von Land- und Stadtleben in großem Maßstab wandert die moderne Himbeere durch den Rewe- oder einen anderen Markt oder – noch besser – veredelt als Marmelade nicht direkt in den Magen heutiger Verzehrer, sondern nimmt einen weiten Umweg in die Warenwelt. Dadurch wird sie Quelle von Profitmacherei.

Bereits in der „Deutschen Ideologie“ (MEW 3, S. 28 f.) spricht Karl Marx davon, dass das „Instrument der Befriedigung zu neuen Bedürfnissen führt – und diese Erzeugung neuer Bedürfnisse ist die erste geschichtliche Tat“. Tatsächlich gliedert sich der einfache Genuss einer Beere erst durch die Schaffung neuer Bedürfnisse auf in den Genuss von Marmelade, Gelee oder alkoholischer Getränke, die den Geist benebeln und auf Dauer verformen können; eine Fähigkeit, die der unschuldigen Himbeere, die nie in Kontakt mit den Mysterien der Warenwelt gekommen ist, gänzlich fehlt.

Am Anfang des Kapitalismus steht die Verwandlung der elementaren menschlichen Bedürfnisse in die Warenform – Essen und Trinken, vor allem aber Kleidung und Wohnung. Es ist kein Zufall, dass an der Wiege dieser Formation die Textilindustrie Manchesters und das damit verknüpfte Wohn­elend all jener Orte steht, an denen sich das junge Proletariat auf der Suche nach Lohnarbeit zusammenklumpt. Mit der Befriedigung von Bedürfnissen über die Vermittlung von warenförmigen Konsummitteln verändern sich diese Bedürfnisse. Der rohe Verzehr von Lebensmitteln, wie sie die Natur liefert, wird ebenso vielfältig verfeinert wie das Bedürfnis, sich durch Kleidung und Wohnungen vor den Einflüssen der Witterung zu schützen.

Die Schaffung neuer Bedürfnisse ist einer der Schlüssel für die Frage nach den Gründen der Dauerhaftigkeit dieser Gesellschaftsformation. Bekanntlich erwarteten sowohl Marx als auch Friedrich Engels die Befreiung der Menschheit aus den Zwängen des kapitalistischen Warengefängnisses noch zu ihren Lebzeiten. Diese Hoffnung teilten sie mit Generationen von Kommunistinnen und Kommunisten, die ihren Spuren folgten – von August Bebel über Rosa Luxemburg bis hin zu Walter Ulbricht und Herbert Mies („Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass der Sozialismus einen Bogen um die Bundesrepublik Deutschland macht“). Bisher ist dieser Wunsch nicht in Erfüllung gegangen.

Expansion der Warenproduktion

Dies liegt im Wesentlichen daran, dass der Kapitalismus in drei Richtungen immer neue Wege gefunden hat, um die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse an die Warenform zu knüpfen und so in seine Profitmaximierungs-Maschinerie zu integrieren. Der erste ist die Erschließung neuer geographischer Gebiete. Die Vernichtung der außerhalb des kapitalistischen Weltmarkt stehenden Wirtschaftsräume Indiens, Chinas oder Afrikas in der Kolonialzeit, ihre Zwingung unter das Joch der europäischen Kolonialmächte und die allmähliche Verwandlung aller Wirtschaftsbeziehungen in die Warenform war nicht nur ein brutales Verbrechen – sie war die Voraussetzung der Lebensverlängerung des Kapitalismus, der, auf Europa begrenzt, an seinen inneren Widersprüchen schneller zugrunde gegangen wäre. Die zweite Expansion ist verknüpft mit zwei Erfindungen, die es ermöglichten, Bedürfnisse, deren Befriedigung vorher nicht warenförmig stattgefunden hatte, in die Warenform zu überführen. Der Ottomotor ermöglichte es, die Mobilität, die vorher vor allem – und dadurch erheblich begrenzt – zu Fuß vollzogen wurde, zu einer immer reichlicher sprudelnden Quelle von Warenproduktion und damit Profit zu machen. Die massenhafte Anwendung der Elektrizität führte nicht nur dazu, dass die letzten Dampfmaschinen von den Fabrik- in die Museumshallen umziehen mussten; die mit ihr verknüpfte Entstehung der sogenannten „weißen Ware“ – Kühlschränke, Waschmaschinen, Geschirrspülmaschinen und das ganze Kleingerät, das heutzutage die Küchen der Wohlstandsregionen der Welt bevölkert – verwandelte ein Riesenfeld von Arbeitsbeziehungen, die Jahrtausende lang unent-geld-lich (meist von Frauen) ausgeübt wurden, in die Warenform.

Bei diesen beiden kapitalismusverlängernden Schüben beobachten wir außerdem noch ausgeprägter als beim Bedürfnisfeld Essen/Trinken/Kleidung/Wohnen die Schaffung neuer Bedürfnisse: Die rastlose, bei manchen Menschen schon zwanghaft anmutende Reisetätigkeit, welche die von Lohnarbeit freien Tagen erfüllt und die in jeden schönen Winkel dieser Welt Touristenwellen anspült wie die Natur Meereswogen an den Juister Strand, war noch im 15. Jahrhundert, abgesehen vom Tourismus der Gläubigen, die zu ihren heiligen Stätten pilgerten, unvorstellbar. Das Bedürfnis, alles Schöne dieser Welt zu sehen, abzulichten und die Fotos (früher als gefürchtete Diaschau nach Rückkehr, heute als Datenflut auf die Handys der Daheimgebliebenen) der eigenen Verwandtschaft zu schicken, ist also als ein neues Bedürfnis aus der Befriedigung alter Bedürfnisse (von A nach B kommen) erwachsen.

Formierung von Bedürfnissen

Angelegt ist in dieser Entstehung neuer und Verformung alter Bedürfnisse bereits die Möglichkeit der Deformation menschlicher Bedürfnisse. Die Befriedigung des Wunsches nach Essen wird begleitet nicht nur von der Vernichtung eines Drittels der ursprünglich zu diesem Zwecke hergestellten Waren. Das Essen selbst wird beispielsweise durch Medienwellen so problematisiert, dass sich bei geschickter Mischung von Wahrheit, Ideologie und Marketing Esswellen und -moden erzeugen lassen, durch die früher relativ billige Nahrungsmittel mit einem Mehrfachen des alten Preises vor allem an wohlhabende Schichten gebracht werden können.

Mit jedem neuen Schub der Verwandlung menschlicher Bedürfnisse in die Warenform als Voraussetzung ihrer Befriedigung prägt sich diese Deformation menschlicher Bedürfnisse selbst stärker aus. Das wird deutlich an dem dritten Hauptweg Verlängerung der Lebensdauer des Kapitalismus, der in unserer Zeit hervortritt. Durch ihn werden die Sozialverhältnisse der Menschen selbst in die Warenform überführt. Vor rund hundert Jahren hat ein gewöhnlicher englischer, italienischer oder deutscher Kapitalist die Bereiche der Bildung oder der Gesundheitsvorsorge gerne dem Staat oder der Kirche überlassen – Profite holte er sich lieber aus dem Weben von Tüchern oder dem Herstellen von Lokomotiven. Mit sinkenden Profitraten in diesen Feldern und nach Erschöpfen der ersten beiden Schübe zur Expansion des Kapitalismus in neue äußere und innere Märkte hinein kamen in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhundert zunehmend diese vorher verschmähten, eher dürftigen Äcker der Mehrwertproduktion unter den Pflug – daher die Privatisierungswellen von Bildung, Kultur und Gesundheit, unter denen wir bis heute leiden und in denen unter anderem die Gesundheit und Pflege von Menschen immer selbstverständlicher zur Ware wird. Die Art und Weise der Bildungsarbeit, der Kulturarbeit und der Pflege an kranken, schwachen, behinderten oder alten Menschen verändert fundamental die Struktur der Bedürfnisbefriedigung, die sich etabliert hat und mit ihr die Struktur der Bedürfnisse selbst. Bildung, die zur Ware wird, kann dem alten Humboldtschen Bildungsideal, Selbstzweck zu sein, nicht mehr folgen, sondern muss sich der Zweckbindung als Ware unterwerfen – so siegen mehr und mehr die Privatschulen gegenüber den öffentlichen Schulen.

Die Digitalisierungsdebatten, die wir auch in Gewerkschaftskreisen so zeitraubend führen, sind Bestandteil dieses Schubs von Verwandlung alter Bedürfnisse in und durch die Warenform.

Die Digitalisierung ermöglicht erstens einen Rationalisierungsschub bei aller bisher schon etablierten Warenproduktion – ob bei der Herstellung von Autos und Kühlschränken oder dem Aufstellen von Pflegeplänen im Krankenhaus. Das sei hier aus Platzgründen außen vor gelassen.

Digitalisierung und Kommunikation

Die zweite Hauptrichtung der Entfaltung der Digitalisierung betrifft den großen Bereich menschlicher Kommunikation.

Am Anfang war das Wort, sagt die Bibel und rückt damit die menschliche Kommunikation in das Zentrum der Menschwerdung. Die menschliche Kommunikation fand über zehntausende von Jahren statt, ohne dass auch je nur vorstellbar war, dass sie des Dazwischenschaltens eines technischen Mediums bedürfte. Menschliche Kommunikation – das war das gesprochene Wort und die (häufig das Wort begleitende) nonverbale Kommunikation. Ausgenommen waren davon in der Hochzeit der Antike lediglich die obersten Schichten der damaligen Sklavenhalterwirtschaft und der sie stützenden Staatsapparate, die zu ihrem Funktionieren die Schriftsprache und geschriebene Zahlenzeichen einführten, die sich – auf Papyrus, Tonscherben, Ziegenleder oder anderen Medien gespeichert – als Mittel der Kommunikation zwischen die einzelnen Menschen schoben, die mit ihrer Hilfe in Kontakt waren. Diese Struktur der Kommunikation – völlige Dominanz der direkten Kommunikation ohne Medium – blieb im Großen und Ganzen so bis zum Beginn der industriellen Revolution. Drei Totengräber dieser kommunikativen Grundordnung von 5000 vor bis 1800 unserer Zeitrechnung kamen aber schon in dieser Zeit zur Welt: Der erste war die Erfindung des Papiers, die zweite die Erfindung des Buchdrucks und die dritte die Etablierung des Postwesens. Damit sickerten zunächst Rinnsale zwischen die direkte Kommunikation der Menschen und bewirkten wiederum dreierlei. Zum einen entstand stärker als selbst zur Blütezeit des römischen Reiches das Bedürfnis, mit diesen Medien kommunizieren zu können – also das nach der Fähigkeit zum Lesen und Schreiben. Zum zweiten bedurfte es zum Erwerb eines Buches oder dem Versand eines Briefes des Geldes und drittens und damit verknüpft wurde die Kommunikation der Warenform und so der Profitmacherei zugänglich. Die ersten großen Druckereien, Zeitungen und Verlagshäuser sind Zeugen dieses Aufbruchs, der die Mahnung von Karl Marx, das erste Privileg einer Zeitung sei es, kein Gewerbe zu sein, mit ausgestreckten Ellenbogen in die Seite rempelte.

Weiter in Schwung kam die Verwandlung der Kommunikation in die Warenform mit der Entdeckung der Elektrizität und der Radiowellen. Beides führte verbunden mit weiteren Verfeinerungen im Druckereigewerbe zur Entstehung der Massenmedien, mit denen sich nicht nur – siehe Springer – großer Reichtum anhäufen ließ. Die Massenmedien galten und gelten zu Recht bis heute als Instrumente, durch die sich die Bedürfnisse großer Menschenmassen in die von Besitzenden und Herrschenden gewünschten Richtungen lenken, also (de)formieren lassen. Die Massenkommunikation blieb aber in dieser Phase eine Kommunikation von einigen wenigen (vor allem Mächtigen) zu vielen. Abgesehen von privater Post war die Kommunikation der einzelnen Menschen untereinander bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts weiterhin das, was sie in den Jahrtausenden vorher war: Gespräch zwischen den Menschen. Erst die Einführung des Telefons und seine massenhafte Verbreitung in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts schob zwischen die Sprechenden ein technisches Medium. Da es zunächst staatlich organisiert war, war es der privaten Profitmacherei in den meisten kapitalistischen Industrienationen zunächst entzogen. Die Zerschlagung und Privatisierung der Post am Ende des letzten Jahrhunderts ermöglichte es, auch diesen Acker unter den Pflug der Mehrwertproduktion zu nehmen.

Wie die Zündung einer neuen Raketenstufe hat auf das Feld der Kommunikation aber seit Anfang des neuen Jahrtausends die Einführung des Handys gewirkt. Die vorher warenlos sich vollziehende Befriedigung von Kommunikationsbedürfnissen wird an die Warenform und damit an den Besitz und Austausch von Geld gekoppelt; sie wird dadurch erst in großem Umfang der Profitmacherei zugänglich. Vor allem aber prägt sich bei diesem Schub noch stärker die Entstehung neuer Bedürfnisse und die Gesetzmäßigkeit der Verformung von hergebrachten Bedürfnissen aus. Während noch bis vor wenigen Jahrzehnten jeder Reisende entweder mit Vorfreude oder mit Bangen den unausweichlichen Gesprächen mit Zugabteil-Weggefährten oder Wartenden in den Bahnhöfen entgegensah, sind heute Innenstädte, Bahnhöfe, Flughäfen und Züge bevölkert von Menschen, die mit Micky-Maus-Kopfhörern auf den Ohren und den Blick fest auf ihr Smartphone genagelt ihr inneres Dasein völlig vom physischen Dasein entkoppelt haben: Sie sind hier und doch nicht hier, sondern in einer von ihrer gegenwärtigen physischen Umwelt abgelösten eigenen Kommunikationswelt gefesselt. Das ist nur möglich durch die Dazwischen-Schaltung eines gewaltigen technischen Apparates, der die Schürfung seltener Erden von der anderen Hälfte des Globus ebenso einschließt wie die Beförderung tonnenschwerer Satelliten in den Weltraum. Dieser technische Apparat ist die Quelle ebenso gewaltiger Profite. Diese technische vermittelte Kommunikation ist – wenn sie ertragreich sein soll – darauf angewiesen, die nichttechnische zu verdrängen und damit die Struktur des menschlichen Bedürfnisses nach Kommunikation selbst zu verändern. Folglich scheuen mehr und mehr Menschen im beruflichen und auch privaten Umfeld das private Gespräch und ersetzen es schnell und oft durch E-Mails; selbst das früher gebräuchliche Telefon weicht der die Menschen auseinanderschiebenden Ersatz-Kommunikation per WhatsApp oder anderen Plattformen. Die sogenannten sozialen Medien sind so in ihrem Kern die Menschen voneinander entfernende, also a-soziale Medien. Sie formieren das Bedürfnis nach Kommunikation auf kapitalistische Art und deformieren es dadurch.

Neue Profitmaschinen

Die Unternehmen, die diese kapitalistische Zurichtung des menschlichen Bedürfnisses nach Kommunikation betreiben – Apple und andere – sind heute die am stärksten kapitalisierten Unternehmen weltweit. Diese Industrie hat, verglichen etwa mit der Herstellung von Autos oder Flugzeugen, relativ geringen technischen Produktionsapparat zur Voraussetzung. Bernd Kelly beschreibt das in der Tageszeitung „junge Welt“ am 19./21. Mai 2018 so: „In der Softwareindustrie ist der Anteil des variablen Kapitals im Verhältnis zum konstanten Kapital sehr groß (…). Dadurch ergibt sich eine Mehrwert- und Profitrate, die unvergleichlich größer ist als bei den traditionellen Industrien. Inzwischen haben Softwarekonzerne (…) einen höheren Börsenwert als traditionelle ‚Hardware‘-Konzerne (…), obwohl etwa der Maschinenpark der Softwarekonzerne daran nur einen verschwindenden Anteil ausweist. Da inzwischen in vielen industriellen Produkten mit steigender Tendenz Software zu finden ist, verbessert das auch in gewissem Maße die Profitrate der traditionellen Industrien.“

In seinem dieses Jahr auch auf Deutsch erschienen Buch über den von ihm so bezeichneten „Plattform-Kapitalismus“ beschreibt Nick Srnicek – ein Kanadier, der zurzeit in London digitale Ökonomie unterrichtet – das sogenannte Data-Mining, welches die Verarbeitung stofflicher Rohstoffe als Zentrum der kapitalistischen Mehrwertproduktion mehr und mehr ablöse. Die Explosion des Börsenwertes und der Gewinnausschüttungen von Amazon, Apple, Facebook und Microsoft scheint das zu unterstützen. Hier scheint die marxistische Diskussion noch nicht abgeschlossen. Ähnlich wie im Transportgewerbe  – mit dem sich Marx im zweiten Band des „Kapital“ ausführlich befasst hat – wird, so argumentieren die einen, von diesen Gewerben nichts geschaffen, was direkt in die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse einflösse. Ist das so, so erklärt sich die Explosion von Gewinnen und Börsenwerten dieser Unternehmen ähnlich wie das vorübergehende Aufblähen der Finanzsphäre dadurch, dass die wachsende Produktivität der Mehrwert-schöpfenden Industrien die Mehrwertmasse so hat anschwellen lassen, dass sich diejenigen, die über die komplexen weltweiten Vermittlungsketten von Profitverteilung am ökonomisch und politisch längeren Hebel sitzen, davon größere Scheiben abschneiden können. So also, wie in den 80er und 90er Jahren die Banken und Versicherungen – ohne selbst Wert zu schaffen – den in anderen ökonomischen Sphären entstandenen Mehrwert abschöpften, so tun das danach die genannten Konzerne heute aufgrund ihrer Macht über Informationen. Für die innere Stimmigkeit dieser Argumentation spricht das, was wir alle kennen, wenn wir diese neuen Medien nutzen: Wir werden erschlagen von einer Flut akustischer und optischer Werbebotschaften. Könnten Smartphones Gerüche ausstoßen, würde vermutlich auch dieser Sinn noch einbezogen werden. Die Zusteuerung der richtigen Werbebotschaften zum richtigen potentiellen Kunden aber ist das Kern-Geschäftsmodell von Google & Co. Aber sie steuern eben vor allem und letztendlich Waren aus der materiellen Produktion den künftigen Kunden zu. In diesem Falle sind dann die Werbebeiträge, die zum Beispiel VW oder Nestle an Google überweisen und die sich dort dann – weil die Aufwände für fixes Kapital dort recht gering sind – als  Gewinn-Fettschichten ablagern, ab- und umgeleiteter und kein originärer Mehrwert.

Die andere Position ist die, dass sich eben eine neue Bedürfnisstruktur herausbilde, in deren Zentrum nicht mehr die Befriedigung durch stoffliche Mittel stünde. Damit aber würde sich der nicht-stoffliche Bereich zunehmend in das Zentrum der Mehrwert- und Profitmacherei schieben. Daran ist insofern etwas Richtiges, als tatsächlich z.B. das Kommunikationsbedürfnis, das wie beschrieben bis vor gut 100 Jahren der Profitmacherei, anders als stofflich fassbare Bedürfnisse, der Befriedigung durch technische Instrumente weitgehend unzugänglich war, inzwischen eines ist, das durch den Kapitalismus so umgeformt worden ist, dass – scheinbar! – zu seiner Befriedigung ein technischer Apparat vonnöten ist. Dieser technische Apparat allerdings – und damit wieder etwas Stoffliches – ist Voraussetzung für die Mehrwerterzeugung: Warum sonst sollten Menschen sich veranlasst sehen, ihre Arbeitskraft jemandem zu verkaufen, der sie ausbeutet, wenn er oder sie genauso gut ohne gigantische Hardware und Satellitenzugang mit Menschen kommunizieren könnte, die am anderen Ende der Welt wohnen?

Das Einsaugen dieser vorher verschlossenen Sphären menschlicher Bedürfnisse in die kapitalistische Warenproduktion ist jedenfalls – neben den Fehlern der Generation, die den großen Versuch von 1917 bis 1989 von der Elbe bis Wladiwostok vor die Wand gefahren hat – ein wesentlicher Grund für die Tatsache, dass es bislang nicht gelungen ist, die vorgeschichtliche Art und Weise, das Leben der Menschen zu organisieren, zu überwinden. Der Kapitalismus erkauft sich so eine Erholung seiner Profitquellen und eine Verlängerung seiner historischen Existenz. Er tut dies aber um den Preis eines immer offenkundiger werdenden Siechtums: Diese Verwandlung der menschlichen Kommunikation in die Quelle von Profit zerrüttet nicht nur in beschleunigtem Maße die natürlichen Lebensgrundlagen durch die ökologisch hoch aufwendige Schürfung bisher in der Erde ruhender Metalle und die Vollmüllung des erdnahen Weltraums. Er führt nach innen auch zu einer massiven Verarmung menschlicher Kommunikation, indem sie mehr und mehr – und aus Profitgründen zwanghaft beschleunigt – die Nutzung technischer Mittel zum Nonplusultra von Kommunikation anstelle von Gesprächen macht. Oder wer wagt es, noch von seiner letzten Reise zu erzählen, wenn doch der Reisebegleiter längst alle wichtigen Informationen nebst Fotos und Videos von allen Ereignissen allen Familienmitgliedern schon zeitgleich zugesandt hat?

Digitalisierung und Sozialismus/Kommunismus

Seitdem in den 90er Jahren die Thesen von Jeremy Rifkin über „das Ende der Arbeit“ diskutiert werden, kämpfen marxistisch orientierte Menschen um die zwingend notwendige Unterscheidung zwischen dem stofflich-technischen Anteilen an den Produktionsverhältnissen (im Marxschen Sprachgebrauch die Produktionsmittel) und den gesellschaftlichen Voraussetzungen, diese Mittel nicht im Sinne der Profitmaximierung, sondern zur Entwicklung des Menschen zum Menschen einzusetzen. Geht dem Menschen die Arbeit aus? Das ist nicht der Fall und wird es nie sein. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Warenproduktion gibt es aber das systemimmanente Bestreben, Arbeit – die einzige Mehrwert-bildende Substanz – als Kostenfaktor aus dem Produktionsprozess herauszurationalisieren. Unter nichtkapitalistischen Bedingungen wäre das ein Segen für alle – die am Fließband oder bei stumpfsinniger Büroarbeit eingesparte Zeit könnte nun frei werden für die Entfaltung kultureller, künstlerischer, Erziehungs- und Beziehungsarbeit. Kapitalistisch deformiert wird aber der Fortschritt der Produktivkräfte vom Segen zum Fluch von Massenarbeitslosigkeit, Lohndrückerei und Perspektivlosigkeit der in die Verwertungslosigkeit gedrückten Menschen vor den Mauern der kapitalistischen Zentren. Reaktionär, also rückwärtsgewandt und damit perspektivlos, sind alle Versuche, Fortschrittlichkeit darin zu sehen, die noch unter kapitalistischen Bedingungen – und damit immer deformierend – heranreifenden Entwicklungen unserer menschlichen Produktivkräfte zu verbieten oder einzugrenzen. Das wäre genauso hilflos wie die Versuche der mittelalterlichen Zünfte, die Anwendung moderner Maschinen durch Gesetzgebung und Gewalt zu verbieten.

Es sind nicht die technischen Möglichkeiten, die die Kommunikation verarmen lassen, sondern die Art und Weise, wie sie unter kapitalistischen Bedingungen genutzt werden. Ein guter Freund von mir – Mathematiker von Beruf und wie ein Fisch im Wasser des Internet unterwegs – weist mich in unseren Debatten um die Digitalisierung zu Recht auf das große Emanzipationspotential des Internet hin, das den rund 57 Prozent der Menschen verschlossen ist, die bis heute weltweit überhaupt keinen Zugang zu diesem technischen Instrument haben,. Es kann wie oben skizziert missbraucht werden – am deutlichsten bei Facebook. Es kann aber, wie Wikipedia und die daran anknüpfende weltweite Kommunikationsstruktur in Ansätzen zeigt, aber auch dazu führen, dass sich die Spezies Mensch mit der Hilfe dieses technischen Instruments eine Art kollektives Hirn schafft, das, von den Fesseln des Profitsystems und des warenproduzierenden Patriarchats befreit, eine für uns noch unvorstellbare Form rationalen Wirtschaftens ohne Geld und Markt, Marketing und Bedürfnismanipulationen schafft. Das würde zum Beispiel helfen, das schlechte Gewissen zu beseitigen, das Gutmenschen drückt, wenn sie mit Blick auf Treibhausgase einen Kühlschrank kaufen, weil die Vernetzung der besten Gedanken weltweit zügig andere Wege findet, Lebensmittel frisch zu halten – und in ähnlicher Form auch die Fragen der Mobilität ohne den Irrwitz der kapitalistischen Individual-Deformierung dieses Bedürfnisses zu lösen. Und was die oben angesprochenen Urlaubsreisen anlangt: Von den kapitalistischen Arbeitskraft-Verkaufs-Fesseln befreit und im Reich der Freiheit angekommen, wo pro Jahr niemand mehr 1 600, sondern vielleicht noch 160 Stunden oder alle zehn Jahre 1 600 Stunden gesellschaftlich notwendige Arbeit verrichten muss, würde sich das Reisen auch befreien lassen von dem Zwang, umsatzsteigernd in zwei Wochen zweiundzwanzig Ziele anzusteuern und darüber per WhatsApp zuhause Rechenschaft abzulegen. Stattdessen würde das Reisen mit Muße so vollzogen, dass die heute noch damit verbundenen ökologischen Folgeschäden im Dunkel der Vergangenheit, in der wir noch leben, verschwunden sein werden.

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"Digitalisierung und Siechtum", UZ vom 20. Juli 2018



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