Zur Entwicklung der EU und ihren Perspektiven

Ein imperialistisches Instrument

Derzeit diskutiert die DKP in ihren Gliederungen das Bildungsthema „Erfordernisse an die Analyse der faschistischen Gefahr in der heutigen Zeit“. Dazu erschien in der UZ vom 23. Februar an dieser Stelle ein Text von Ursula Vogt. Als Vertiefung zu diesem Text und als Vorbereitung auf die im Juni anstehenden EU-Wahlen drucken wir hier ein aktualisiertes Referat von Stefan Müller ab, welches er ursprünglich im Parteivorstand der DKP gehalten hat. Das Bildungsthema als auch zahlreiches weiteres Begleitmaterial ist zu finden auf der neu gestalteten Website der Bildungskommission.

Unsere Bezeichnung der EU als imperialistisches Instrument ist nicht eine beliebige Einschätzung im politischen Meinungsstreit. Die Bestimmung der EU als imperialistisches Instrument lässt sich herleiten aus dem historischen Prozess der Klassenkämpfe, in denen sie entstanden ist. Es sind die Triebkräfte in den USA, in Frankreich und in Deutschland, die im Wesentlichen die Entwicklung der EU bestimmt haben.

Diese Triebkräfte, die zur heutigen Kräfteaufstellung führten, zeigen sich deutlich im Entwicklungsprozess des geschlagenen deutschen Imperialismus vom 8. Mai 1945 zur führenden imperialistischen Großmacht in der EU.

Geschlagener Imperialismus

Nach 1945 stellte sich für die deutsche Monopolbourgeoisie die Frage des Überlebens. Zum zweiten Mal war sie im Kampf um die Neuaufteilung der Welt geschlagen worden. Mit schwachen Bündnispartnern war der deutsche Imperialismus von einer unvorhergesehenen Koalition der stärksten imperialistischen Großmächte und der unterschätzten So­wjet­union niedergerungen worden. Der deutsche Imperialismus hatte anders als 1918 jegliche Staatsmacht verloren. In Potsdam einigten sich die siegreichen Imperialisten mit der So­wjet­union da­rauf, Deutschland zu demilitarisieren und die Monopole zu zerschlagen. Die Zustimmung der imperialistischen Sieger zum Potsdamer Vertrag war nicht etwa der Einsicht geschuldet, dass die Vorschläge der sowjetischen Delegation sinnvoll waren. Die US-, aber auch die britischen und französischen Imperialisten wollten diese Verträge, um die Fehler von 1918/19 nicht zu wiederholen, die dem geschlagenen deutschen Imperialismus den zweiten Anlauf zur Weltmacht erlaubt hatten. Diejenigen Kräfte im Lager der Imperialisten, die wie vor 1939 dazu drängten, Deutschland gegen die So­wjet­union wiederzubewaffnen, konnten sich in Potsdam noch nicht durchsetzen.

US-Hegemonie

Die USA waren 1945 wirtschaftlich, politisch und militärisch in der kapitalistischen Welt dominierend geworden, zum einen mit dem US-Dollar, dessen Wert sie mit dem Abkommen von Bretton Woods kontrollierten, und zum anderen mit der US-Army und ihren Geheimdiensten. Es war ihnen aber nicht gelungen, die So­wjet­union – den Sozialismus als Staatsmacht – auszulöschen. Die Konkurrenz der Imperialisten um die Neuaufteilung der Welt, getrieben durch den Wiederaufstieg des deutschen Imperialismus nach 1918, war stärker gewesen als das gemeinsame Interesse, die So­wjet­union zu vernichten. Der vom deutschen Imperialismus angezettelte Zweite Weltkrieg hatte die So­wjet­union geschwächt, hatte sie aber auch zum siegreichen Vorkämpfer aller um ihre Befreiung kämpfenden Völker gemacht. Revolution und nationaler Befreiungskampf breiteten sich nach 1945 aus wie ein Flächenbrand: Es lässt sich kaum ein Land finden, in dem sich damals nicht Volksfronten zur Abwehr der faschistischen Aggression gebildet hatten, wie sie der VII. Weltkongress der Kommunistischen Internationale gefordert hatte, und die nun den Kampf weiterführten um Sozialismus und Unabhängigkeit.

Doppelstrategie

Der US-Imperialismus stand in seiner Stärke 1945 deshalb in einem Widerspruch zweier strategischer Teilziele: Erstens, den überlebenden und sich weltweit ausbreitenden Sozialismus unter Führung der So­wjet­union einzudämmen, zurückzudrängen und schließlich zu vernichten. Dieses erste Ziel war das gemeinsame Interesse aller kapitalistischen Mächte.

Das zweite strategische Ziel des US-Imperialismus 1945 war es, die Hegemonie über die anderen imperialistischen Großmächte aufrechtzuerhalten und ihre Einflusssphären zu übernehmen. Das stand natürlich im Widerspruch zu deren Interessen.

Überlebenskampf

Die deutsche Monopolbourgeoisie hatte diesen Zielkonflikt der USA bereits 1944 erkannt und genutzt. Reinhard Gehlen und Adolf Heusinger – Planungschefs für den Überfall auf die So­wjet­union – und ihre „Kameraden“ dienten sich der US-Army ebenso planvoll an wie die Leute von den Kommandohöhen der Kriegswirtschaft. Ludwig Erhard, Karl Blessing und Hermann Josef Abs waren die bekanntesten Kapitalvertreter, die sich den US-Siegern nützlich machten mit dem Ziel, bald wieder auf eigene Rechnung zu arbeiten. Hier zeigt sich der untrennbare Zusammenhang des Klassenkampfs auf nationaler und internationaler Ebene: Auf der nationalen Ebene, wo sich die geschlagene deutsche Monopolbourgeoisie dem US-Kapital als Büttel andiente zur Niederhaltung der Gewerkschafts- und damit Sozialisierungsbewegung, und gleichzeitig auf der internationalen Ebene, wo sich dieselbe Monopolbourgeoisie mit den reaktionärsten und aggressivsten Kräften des US-Imperialismus verbündete, um mit der Einführung der D-Mark Deutschland zu spalten und eine Basis für die Remilitarisierung zu schaffen.

Der Zielkonflikt der USA schien zunächst keine großen Widersprüchlichkeiten zu entwickeln. Die Monopolherren aller Länder waren nur allzu gern bereit, sich vom US-Imperialismus gegen ihr eigenes Volk einspannen zu lassen im „Kampf gegen den Weltkommunismus“. Aber schon im Koreakrieg konnten die beim US-Imperialismus untergeschlüpften deutschen Imperialisten den Widerspruch nutzen, um den Potsdamer Vertrag zu sprengen. Damit sind wir auch schon beim ersten Vorläufer der EU, der – wie wir sehen werden – bereits wesentliche Charakterzüge des imperialistischen Europaprojekts zeigen wird.

Von der Montanunion …

Der Koreakrieg, den der US-Imperialismus mit Blick auf China 1950 bis 1953 führte und mit massiver Materialüberlegenheit gewinnen wollte, löste in den USA einen ungeheuren Rüstungsbedarf aus. Die US-Militärverwaltung beendete deshalb erst unter der Hand, dann offiziell die Potsdamer Beschränkung der westdeutschen Stahlproduktion. Dem „Wirtschaftswunder“ waren damit die Schleusen geöffnet, die Produktionskapazität vom Mai 1945 war ja vorhanden und größer als 1936. Potsdam war Vergangenheit, die deutsche Monopolbourgeoisie durfte wenigstens im Westen Deutschlands in der neu geschaffenen BRD unter Aufsicht der USA wieder Macht ausüben. Der französische Imperialismus wurde 1951 auf Druck des US-Imperialismus über die Montanunion in die Auflösung der Potsdamer Beschränkung der deutschen Stahlproduktion eingebunden. In der Montanunion erhielten die späteren EWG-Gründer BRD, Frankreich, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg eine Freihandelszone mit gemeinsamen Regeln, die von einer gemeinsamen Behörde festgelegt wurden. Ihr offizieller Name war übrigens Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS). Die französischen Imperialisten, die kein Interesse hatten, auf den Potsdamer Vertrag zu verzichten, wurden von den USA mit der politischen Leitung der Montanunion geködert, aber auch mit dem Entzug von Krediten für den Wiederaufbau bedroht.

In der BRD war in der Arbeiterbewegung durchaus bekannt, was es bedeutete, den Potsdamer Vertrag zu sprengen. Deshalb wurden rechte SPD- und DGB-Funktionäre eingebunden – mit außerordentlich gut dotierten Posten in den Gremien der Montanunion: Das Monatsgehalt entsprach dem Jahresgehalt eines Stahlarbeiters.

… zur Verteidigungsgemeinschaft

Der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sollte die Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) zur deutschen Wiederbewaffnung auf dem Fuß folgen. Das wurde aber trotz enormen US-Drucks 1954 im französischen Parlament gestoppt, wo sich zu viele bürgerliche Kräfte an die Vorgeschichte von Potsdam erinnerten und mit der starken und volksfronterfahrenen Kommunistischen Partei dagegen stimmten. So mussten die USA dem westdeutschen Staatsgebilde BRD eine Teilsouveränität zugestehen, um es in die US-gesteuerte NATO aufzunehmen. Die Bewegung gegen die Remilitarisierung reichte in Westdeutschland wie in Frankreich ebenfalls bis weit in bürgerliche Kreise hinein. Ihr Rückgrat hatte sie in der Arbeiterbewegung, wo den schwankenden Reformisten aus der SPD standfeste Kämpfer aus KPD und FDJ zur Seite standen. Gegen kämpfende Kräfte wie die streikenden bayerischen Metaller, die lautstark mehr Lohn statt Rüstung forderten, ging Konrad Adenauers BRD-Staat mit äußerster Härte vor. Der Staatsterror gegen KPD und FDJ ist bekannt. Gleichzeitig stärkte Adenauer die SPD-Reformisten durch sein Rentengesetz, das er gegen den BDI durchsetzte.

Spaltung vollendet

1952 würgte Adenauer die Diskussion um das Wiedervereinigungsangebot der So­wjet­union ab. Dieses sah auf Basis des Potsdamer Vertrags, analog zu Österreich, eine deutsche Wiedervereinigung mit neutralem Status vor. Adenauer orientierte auf einen Tag X der Wiedervereinigung in monopolkapitalistischer „Freedom and Democracy“. Trotz durchaus effizienter Bündnisarbeit der Kräfte um Gehlen und Heusinger in US-Army und CIA fiel die Entscheidung der USA dann am Tag X, dem 17. Juni 1953, dagegen aus, sich in einen Krieg um Deutschland ziehen zu lassen. Da haben Korea und die inzwischen atomar bewaffnete So­wjet­union an der Seite der deutschen Friedensbewegung gekämpft. Die BRD setzte dann bis 1961 auf ein „Ausbluten“ der DDR durch Abwerbung von Fachkräften, was ihr nach Schätzung bürgerlicher Wirtschaftswissenschaftler etwa 20-mal so viel einbrachte wie der Marshallplan. Auch bei anderen Gelegenheiten (Ungarn 1956, Kuba und Berlin 1961) konnten sich die Kriegstreiber in Deutschland und den USA nicht durchsetzen. Das ist der Hintergrund, der den deutschen Imperialismus an die Seite Charles de Gaulles brachte – wir kommen zur EWG und EG.

Wirtschaftsgemeinschaft

Hatte 1950 der deutsche Imperialismus den US-Zielkonflikt zwischen imperialistischer Konkurrenz und Zurückdrängen der Revolution genutzt, so war es ein paar Jahre später ein Zielkonflikt des französischen Imperialismus, den man gegen die USA nutzte.

In der französischen Finanzoligarchie überwog das Interesse, die Dominanz der USA abzuschütteln, gegenüber dem antikommunistischen Kurs. In der Suezkrise 1956 hatten die USA den Briten und Franzosen klargemacht, dass sie als Atommacht in der Weltpolitik allein mit der Atommacht So­wjet­union entscheiden. Die USA hatten von Frankreich 1954 die Hegemonie in Indochina übernommen, nachdem Paris das Geld für die Finanzierung des Kolonialkriegs ausgegangen war. 1957/58 steckte Frankreich wieder in einer Finanzkrise – diesmal wegen des Algerienkriegs. Der französische Imperialismus stand nun vor dem Problem, den enormen Finanzaufwand der Atom- und Wasserstoffbombenentwicklung stemmen zu müssen, wenn er Weltmacht bleiben wollte. Also wurde die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1957/58 mit den Verträgen von Rom um die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und wohlgemerkt auch um die Europäische Atomgemeinschaft (EAG), kurz Euratom, erweitert. Die USA waren natürlich an der Atomrüstung Frankreichs im Verbund mit der BRD nicht interessiert. Sie verhängten deshalb später auch ein Computer-Embargo gegen Frankreich, um die Entwicklung der französischen Wasserstoffbombe zu bremsen.

Europäische Gemeinschaften

Für das Vertragstrio Montanunion, EWG und Euratom bildete sich die Bezeichnung Europäische Gemeinschaften (EG) heraus, die Verträge wurden 1965 bis 1967 offiziell zur EG fusioniert. Daneben bestand – wenig beachtet – bereits seit 1954 in und neben der NATO der „Beistandspakt“ Westeuropäische Union (WEU), der 1993 von der sogenannten GASP – der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – im Vertrag von Maastricht abgelöst wurde und 2001 von der GSVP – der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik – im Vertrag von Nizza und schließlich 2007 vom Militärpakt in den Lissabon-Verträgen. Die Militärverträge seit der WEU sind im staatsrechtlichen Graubereich eingerichtet, das heißt mit noch weniger parlamentarischer Kontrolle irgendwo zwischen EU und NATO.

Zurück an der Spitze

Plakat EU Wahl A1 SOZIALISMUS - Ein imperialistisches Instrument - EU, Imperialismus - Theorie & Geschichte

1961 war die BRD die stärkste und am schnellsten wachsende ökonomische Macht in Europa. Das Finanzkapital, Großbanken und die Industriemonopole waren wiederhergestellt. Die im Wesentlichen unveränderte Finanzoligarchie übte die Herrschaft in der BRD als noch weitgehend abhängiger Juniorpartner der USA aus.

1963 verstärkte das Deutschland Adenauers die Kooperation mit dem Frankreich de Gaulles, das Algerien schließlich gegen den Willen der USA als Kolonie aufgegeben hatte. Mit dem Élysée-Vertrag wurde die Struktur der festen Regierungszusammenarbeit mit regelmäßigen Treffen auf Minister- und Kabinettsebene geschaffen. 1965 begann Frankreich seine Goldreserven aus den USA abzuziehen, 1966 trat es aus der Kommandostruktur der NATO aus. Das NATO-Hauptquartier zog nach Brüssel. De Gaulles Vorschlag, die EG zu einer Verteidigungsunion auszubauen – alternativ zur NATO, das nämlich steckte hinter seinem Schlagwort des „Europas der Vaterländer“ –, wurde aber von den USA ausgebremst: Frankreich konterte in der EWG mit der „Politik des leeren Stuhls“ – an Sitzungen, die nicht seiner Agenda entsprachen, nahm es lange nicht mehr teil.

Der Einfluss des US-Imperialismus in Frankreich, der BRD und Britannien war 1973 schließlich stark genug, um den britischen Eintritt in die EWG durchzusetzen.

Krisen

Auf der anderen Seite des Globus war der Krieg gegen die Wiedervereinigung und Unabhängigkeit Vietnams, den die USA vom französischen Imperialismus übernommen hatten, wieder heiß geworden. Die USA verschuldeten sich dadurch zunehmend. Die BRD steigerte wieder die Exporte in die USA. 1973 mussten die USA das Währungssystem von Bretton Woods und damit die Kontrolle über den Kurs des US-Dollars aufgeben. Die nach der Wiederaufbauphase zurückgekehrten zyklischen Wirtschaftskrisen brachten in der BRD 1966 eine halbe Million Arbeitslose, 1973 schon eine Million. Die Krisenhaftigkeit und eine wachsende Streikbewegung zusammen mit der Studenten- und Lehrlingsbewegung beunruhigte die deutsche Monopolbourgeoisie. Sie suchte den Ausweg aus der Krise im Export, auch in Wirtschaftsbeziehungen mit den sozialistischen Ländern, um gleichzeitig mit den USA den „Wandel durch Annäherung“ und Finanzwirtschaftskrieg zu planen. Im Inneren lockerte man das KPD-Verbot, schuf sich aber gegen erhebliche Widerstände im Volk die Notstandsgesetze, um auch ohne die USA gegen Aufstände vorgehen zu können. Gleichzeitig wurde Staatsnachfrage durch Aufrüstung geschaffen. 1970 beschlossen europäische NATO-Mitglieder zur „Entlastung“ der USA europäische Rüstungs- und Organisationsstrukturen innerhalb der NATO. Das europäische Kampfflugzeug Tornado griff das US-Flugzeugmonopol an, es flog erstmals 1974. In der BRD wurde in den 1970er Jahren durch „keynesianische“ Staatsverschuldung zusätzlich 350 Milliarden DM Nachfrage geschaffen, davon gingen mindestens 250 Milliarden in die (konventionelle) Rüstung.

Lösung vom US-Dollar

Bundeskanzler Helmut Schmidt und der französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing beschlossen 1975 eine gemeinsame Währungspolitik, um größere Unabhängigkeit vom US-Dollar zu gewinnen. Das Europäische Währungssystem EWS war ab 1979 Vorläufer des Euro. Weder das EWS noch der Rüstungskeynesianismus konnte die nächste zyklische Krise 1981/82 verhindern – sie brachte bereits zwei Millionen Arbeitslose.

Nach der Niederlage in Vietnam konsolidierten die USA mit der BRD an ihrer Seite ihre konterrevolutionäre Strategie mit dem Schwerpunkt Wirtschaftskrieg. Der wurde 1980 in der Krise in Polen sichtbar und im Milliardenkredit von 1983 an die DDR. 1985 hoffte die KPdSU, mit dem neuen Generalsekretär Michail Gorbatschow einen Ausweg aus der zunehmend krisenhaften Wirtschaftslage zu finden.

In Südeuropa verloren die USA die nach 1945 durchgesetzte Hegemonie mit dem Ende der faschistischen Regime und dem Eintritt dieser Staaten in die EWG, die auf Basis der EG zur EU ausgebaut wurde: Griechenland 1981, Spanien und Portugal 1986. Der Élysée-Vertrag, die deutsch-französische Struktur der Regierungszusammenarbeit, wurde von Giscards und Schmidts Nachfolgern François Mitterrand und Helmut Kohl 1988 auf „Verteidigung“ ausgedehnt.

Konterrevolution

Nach dem Sieg der Konterrevolutionen ab 1989 in der So­wjet­union und den anderen sozialistischen Ländern Europas begann dort das Rennen um die Beute, das heißt um die Schaffung imperialistischer Einflussgebiete. Da schienen die USA zunächst zu gewinnen. Sie überließen dem deutschen Finanzkapital die DDR und glaubten damit dessen Kräfte gebunden zu haben. Bereits mit dem Sturz Boris Jelzins erlitten die USA aber einen Rückschlag. Trotz der mehr oder weniger offenen „Fuck the EU“-Aktionen wie in der Ukraine ist seitdem der Einfluss des EU-Kapitals unter Führung des deutschen Kapitals in den ehemaligen sozialistischen Staaten Europas gestiegen. Das Gleiche gilt auch für das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien.

Der Weg zur EU

Mit den Verträgen von Maastricht und Lissabon war die EG ab 1993 zur EU, zur Militär- und Währungsunion geworden, die mit dem Euro auf Unabhängigkeit vom US-Dollar zielt. Der Euro zementierte die Hegemonie des deutschen und französischen Finanzkapitals in der EU, weil die gemeinsame Währung den kapitalmäßig schwächeren Staaten keine nationalen Abwertungen mehr erlaubt. Die Krise 1998 bis 2001 mit fünf Millionen Arbeitslosen in der BRD konterte die deutsche Monopolbourgeoisie mit der Agenda 2010, also innerer Abwertung durch Lohnsenkung. Möglich war das durch den Einsatz der rechten Sozialdemokratie und ihren Einfluss in den Gewerkschaften. Der innere Widerstand gegen die Agenda scheiterte an der Desorientierung der marxistischen Arbeiterbewegung nach der Konterrevolution von 1989. Die französische Finanzoligarchie ist seither bestrebt, den Lohnkostenvorsprung der deutschen Konkurrenten durch „Reformen“ gegen die eigene Arbeiterklasse einzuholen.

Weltmachtträume

Die USA kämpften nach 2001 mit dem „Krieg gegen den Terror“ darum, ihre weltweite Hegemonie auch auf dem Feld der Technologie mit Rüstungsinvestitionen und weltweiten Kriegen aufrechtzuerhalten. Die dadurch verstärkten Widersprüche zwischen Frankreich, Britannien, den USA sowie Russland und China nutzte der deutsche Imperialismus, um eine zunehmend selbstständige Rolle zu spielen.

Nach 1989 zeigte sich, dass die weltweite Deregulierungsoffensive der USA der Nach-Vietnam-Ära sich keineswegs nur gegen die sozialistischen Staaten gerichtet hatte, sondern auch der Aufrechterhaltung der US-Hegemonie auf den Finanzmärkten diente. Die Militärausgaben des „Kriegs gegen den Terror“ wurden gedeckt durch die Politik des „Billigen Geldes“ der US-Zentralbank und halfen dem US-Finanzkapital aus der 1998 beginnenden Weltfinanzkrise, die 2007 in die noch anhaltende Weltwirtschaftskrise überging.

Die BRD konnte – nach Einverleibung der DDR größer und nach Lohnkostensenkung durch die Agenda 2010 kapitalstärker geworden – als stärkste wirtschaftliche Macht die Krisenpolitik in der EU diktieren. Das wurde sichtbar in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 2010, als der französische Präsident Nicolas Sarkozy sich Bundeskanzlerin Angela Merkel unterwerfen musste, um in der Griechenlandkrise die französischen Großbanken zu retten. Die deutsche Finanzoligarchie hatte nach der wirtschaftlichen jetzt auch die politische Führung in der EU. 65 Jahre nach seiner blutigen Niederlage konnte der deutsche Imperialismus nun auch wieder die Frage nach der militärischen Weltmachtposition stellen.

Taktische Fragen

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(Foto: privat)

Unter den deutschen Oligarchen besteht aber keine Einigkeit, wie weit die Konkurrenz zum US-Imperialismus offen gezeigt werden kann und wie viel der französischen Finanzoligarchie zugestanden werden soll, damit sie diesmal friedlich an die Seite der BRD rückt. Bei Angriffen auf den US-Markt haben führende Industriemonopole wie Daimler mit Chrysler, Siemens und VW, aber auch die Deutsche Bank und der Allianz-Konzern ihre Grenzen und die ihrer Staatsmacht aufgezeigt bekommen. Nachdem Bundespräsident Horst Köhler den militärischen Weltmachtanspruch offen geäußert hatte, musste er 2010 zurücktreten. Seine Nachfolger Joachim Gauck und Frank-Walter Steinmeier formulierten den militärischen Weltmachtanspruch der BRD aber weiter, ohne die Ordnungsrufe der USA zu überhören. Im alten Aufrüstungslied singen sie einmal die Strophe „Man kann sich auf die Amis nicht mehr verlassen“, dann wieder „Wir müssen unsere Freunde entlasten“. Im Zweifel gilt immer die bewährte deutsche Aufrüstungsbegründung „zur Unterstützung der USA“ gegen Russland. Die Weltkriegsgefahr wird dabei von der deutschen Finanz­oligarchie billigend in Kauf genommen.

Deutsche Strategie

Die zahlenmäßig winzige deutsche Finanzoligarchie, vielleicht 100 Familienclans mit ihrem Hofstaat, übt ihre Herrschaft in der BRD in lange gewachsenen Abhängigkeiten nach innen und außen aus. Nach 1945 ist der deutsche Imperialismus aus der Dominanz des US-Imperialismus zunehmend herausgewachsen – vor allem in Verbindung mit der Rüstung gegen die So­wjet­union, aber wesentlich auch mit Rückgriff auf die Widersprüche zwischen dem französischen und dem US-Imperialismus. Die Fäden, die in diesem Entwicklungsprozess gesponnen wurden, bilden das Netzwerk der Macht, dessen Struktur Wladimir Iljitsch Lenin in seinem Werk „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ darstellt. Dieses Netzwerk spinnt sich im Inneren, wie er im siebten Kapitel ausführt, vor allem über den Sozialdemokratismus in die Arbeiterbewegung hinein und verdeckt den Blick auf die Triebkräfte der Kriegsgefahr: Es ist der Zwang zur Neuaufteilung der Welt, der aus dem Missverhältnis entsteht zwischen der Entwicklung der Akkumulation und der Entwicklung der Einflusssphären. Der Blick des deutschen Imperialismus ist genau auf dieses Missverhältnis gerichtet.
Er ist es, der aus diesem Missverhältnis heraus das größte objektive Interesse hat an der Störung des labilen Gleichgewichts zwischen den imperialistischen Großmächten durch Neuaufteilung der Absatzmärkte, Rohstoffquellen und Einflusssphären. Er kann deshalb mit Fug und Recht als aggressiver Kriegstreiber bezeichnet werden, auch wenn ihm gegenwärtig die militärischen Mittel zur Durchsetzung seiner Interessen gegenüber dem heutigen Hauptaggressor in der Welt, den USA, noch fehlen.

Reaktionäres Projekt

Lenin hat bekanntlich festgestellt: „Vom Standpunkt der ökonomischen Bedingungen des Imperialismus (…) sind die Vereinigten Staaten von Europa unter kapitalistischen Verhältnissen entweder unmöglich oder reaktionär.“ Er sollte auch hier Recht behalten: Je mehr die EU sich als Vereinigte Staaten von Europa aufstellt, desto reaktionärer zeigt sie sich. Sie dient als Instrument zur Aushebelung der von der Arbeiterklasse in den nationalen Klassenkämpfen erkämpften demokratischen und sozialen Rechte. Sie ist Instrument zur Unterdrückung der schwächeren Länder. Sie ist der Rahmen, in dem die stärksten imperialistischen europäischen Großmächte BRD und Frankreich ihre Kooperation und Konkurrenz austragen und sich bereits in zunehmender Rivalität zu den nach wie vor militärisch viel stärkeren USA aufstellen. Der aktuelle Weg der EU zur militärischen Großmacht ist in dem von Claudia Haydt und Jürgen Wagner – beide Vorstandsmitglieder der Tübinger Informationsstelle Militarisierung – verfassten Buch „Die Militarisierung der EU“ dokumentiert, in dem auch die Verzahnung von NATO und EU deutlich wird. Dem deutschen Imperialismus dient die EU vor allem zur Verschleierung seiner militärischen Großmachtpläne. Nach zwei gescheiterten Anläufen zur Weltmacht hat die deutsche Finanzoligarchie dazugelernt. Dazu Originalton von EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen vom 10. Januar 2019: „Wie die Entstehungsgeschichte der heute allseits akzeptierten Errungenschaften EU-Binnenmarkt oder Freizügigkeit zeigt, erzielen wir wesentliche Fortschritte in Europa nicht im Hauruckverfahren. Sondern es braucht vertrauensbildende Zwischenschritte und Mitgliedstaaten, die entschlossen vorangehen. Auf dem Gebiet der Verteidigung ist Deutschland gemeinsam mit Frankreich Treiber in Europa.“

Gegen das ­Weltmachtstreben

Mit diesem Gesamtbild wäre die gegenwärtige Lage der EU einzuschätzen: Welche Kräfte machen sich in Frankreich und in der BRD für den Vorschlag des französischen Präsidenten Emmanuel Macron stark zur gemeinsamen Beherrschung der EU als Weltmacht gegen die USA und China – und welche Interessen stellen sich dagegen?

Aus der nach wie vor starken Kooperation der deutschen Imperialisten mit dem US-Imperialismus in EU und NATO entwickeln sich mit einer gewissen Notwendigkeit zunehmend die Elemente der Konkurrenz.

Dem militärischen Weltmachtstreben des deutschen Imperialismus und der Gefahr, dass er sich ein drittes Mal zum Hauptaggressor in der Welt entwickelt, stehen aber zwei wesentliche Barrieren entgegen.

Erstens: das Interesse der anderen Imperialisten. Das Interesse der US-Imperialisten ist dabei immer wieder mit dem deutschen Kooperationsangebot unterlaufen worden, das mit dem Weltmachtstreben ebenfalls zunahm, bis hin zur „Zeitenwende“. Teile der französischen Monopolbourgeoisie setzen auf der anderen Seite weiter auf die EU-Kooperation zum Erhalt der eigenen Weltmachtposition, fordern aber mit der wachsenden Macht des deutschen Imperialismus zunehmend Absicherungen.

Die zweite dem Weltmachtstreben des deutschen Imperialismus entgegenstehende Barriere ist der nationale Klassenkampf: Das Volk hat kein Interesse am Krieg. Selbst die ungeheure Medienmacht der Finanzoligarchen hat keine subjektive Mehrheit für Aufrüstung geschaffen, weder in Deutschland noch in anderen Ländern. In Deutschland gibt es weder eine Mehrheit für Aufrüstung unter dem US-Mantel noch für eine EU-Militärweltmacht. Deshalb liegt dem deutschen Imperialismus so viel am Mythos vom Friedensprojekt Europa. Er braucht – hier sind wir wieder bei Lenin – den Opportunismus in der Arbeiterbewegung, um den Mythos aufrechtzuerhalten.

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"Ein imperialistisches Instrument", UZ vom 12. April 2024



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