Was wir von der Zeit nach Merkel zu erwarten haben

Freilich dreht das Rad sich weiter

Von Olaf Matthes

Die Landtagswahl in Hessen hat gezeigt, dass sich das Parteiensystem neu sortiert – und damit die Art und Weise, wie die verschiedenen Parteien des Kapitals dessen Herrschaft organisieren. Nun sammeln die Thronanwärter ihre Truppen, Anfang Dezember wird der CDU-Parteitag den neuen Vorsitzenden und vermutlich nächsten Bundeskanzler wählen. Bis zum Redaktionsschluss hatte es den Anschein, als würde entweder die CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer oder der Gesundheitsminister Jens Spahn die Neuorientierung der Konservativen und die nächste Regierung führen, auch Friedrich Merz hatte angekündigt zu kandidieren.

Horst Seehofer hat die Migration als „Mutter der Probleme“ ausgemacht. In gewisser Weise hat er Recht – vom Standpunkt derjenigen aus gesehen, die dem deutschen Imperialismus ein ruhiges Hinterland und eine starke Rolle in der Welt sichern wollen. Bis 2015 war die Merkel-Raute zum Symbol eines Herrschaftsmodells geworden: Das deutsche Spardiktat sichert, dass die deutsche Exportwalze weiter durch die Eurozone rollen kann. Merkels Vorgänger Gerhard Schröder hatte den Lebensstandard der Bevölkerung weit genug gesenkt, dass Merkel das Niedriglohnland Deutschland nur noch verwalten musste und sich gelegentlich sogar als soziale Wohltäterin präsentieren konnte.

Seitdem Angela Merkel aus angeblicher Weltoffenheit angeblich die Grenzen geöffnet hat, nehmen mehr Menschen die sozialen Probleme im Land wahr – aber vor allem als Folge der Einwanderung, verknüpft mit rassistischen Vorurteilen. In Deutschland hat Merkel die Verantwortung für die Versorgung der Flüchtlinge auf die breite Bevölkerung, auf Ehrenamtliche und Kommunen, abgewälzt. In der EU hat sie dasselbe versucht – und ist damit gescheitert. Wie in Deutschland konnten in anderen EU-Ländern rassistische Demagogen den Widerstand gegen Merkel für ihre eigenen Zwecke vereinnahmen. Eine Alternative zwischen jenseits von Merkel und rassistischen Demagogen scheint es nicht zu geben. Seit der Enttäuschung über die griechische Linksregierung kann sich keine noch so gemäßigte „linke“ Kraft als Alternative zu den Konservativen präsentieren. Dass Seehofer die Migration als „Mutter der Probleme“ sehen kann, zeigt auch die Schwäche linker und „linker“ Kräfte. Merkel hat Schröders Politik fortgesetzt und die SPD dabei fest genug umarmt, dass deren Funktionäre seit einem Jahr an Wahlabenden Mühe haben, ihre Erschütterung über die neue Hochrechnung vor den Fotografen zu verstecken.

Merkel hat den Grünen Gelegenheit gegeben, sich als bürgerliche Regierungspartei mit Öko-Anstrich zu präsentieren. Die Ablehnung Merkels hat rechte Konservative und offene Nazis in der AfD zusammengebracht, die Propaganda von der „Mutter der Probleme“ treibt ihr selbst Gewerkschafter zu. Seehofer hat insofern Recht, als es der Regierung Merkel seit 2015 eben immer schlechter gelungen ist, dem deutschen Imperialismus Unterstützung im Inneren und Dominanz in der EU zu sichern.

Bald werden wir mit neuen Personen und anderem Stil regiert werden, wie in Brechts Ballade vom Wasserrad dreht das Rad sich weiter, Merkel geht wie ein Gestirn nieder. Das ist weder ein Grund zum Jubeln noch zum Jammern – nur ein weiterer Beleg dafür, dass der Kampf für die Rechte der arbeitenden Menschen sich von allen Strömungen und Formen der bürgerlichen Ideologie und Politik unabhängig machen muss. Wen das Rad nach oben hebt? Die Unionsparteien werden die rassistische Ausländerpolitik verschärfen und sich weniger als bisher darum bemühen, das mit moralischen Phrasen zu verschleiern. Union und AfD werden sich necken und umtanzen, bis Schwarz-Blau wie in Österreich irgendwann auch bei uns zusammenkommt. Der SPD werden für ihre Erneuerung ein paar radikale Sprüche einfallen. Mit Brecht: „Wer trägt die Spesen?“

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"Freilich dreht das Rad sich weiter", UZ vom 2. November 2018



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