Über Verantwortung und Zuversicht

Friedrich Engels und der historische Optimismus

Auf Einladung der „Marx Memorial Library“ in London und der „Working Class Movement Library“ in Manchester hielt Manfred Sohn einen Vortrag zum Thema „Engels and Historical Optimism“. Der nachfolgende Text beruht auf der ins Deutsche rückübersetzten Fassung dieses Referats, die für UZ gekürzt und redaktionell bearbeitet wurde. Der ausführliche Text findet sich unter marx-engels-stiftung.de.

Ich soll über „Optimismus“ sprechen. Das scheint angesichts unserer gegenwärtigen Lage ein bisschen verrückt? Schauen wir nach Deutschland: Seit 1989 ist die an Karl Marx und Friedrich Engels orientierte Linke – zumindest von außen betrachtet – eine geschlagene und politisch an die Wand geklatschte Bewegung. Ihre nach wie vor stärkste Organisation, die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), zählt kaum 3.000 Mitglieder und ihr Parteiorgan, die Wochenzeitung „Unsere Zeit“, hat eine Auflage von durchschnittlich rund 5.000 Exemplaren – in einem Volk von 84 Millionen Menschen. Das scheint wie ein Tropfen im Ozean.

Woher sollen wir angesichts dessen unseren Optimismus nehmen?

Wurzeln unserer Zuversicht

Wir alle kennen das „Manifest der Kommunistischen Partei“, geschrieben an der Jahreswende 1847/48 und veröffentlicht zuerst in London im Februar 1848. Jeder, der es liest, spürt den Geist des Aufbruchs und des Optimismus, der es durchzieht.

Und doch: Am Anfang war das ein Dokument, das gelesen oder gar bewundert wurde von nicht viel mehr Menschen, als hier heute Abend online versammelt sind. Als Engels das Vorwort zur vierten deutschen Auflage verfasste, am 1. Mai 1890, konnte er auf eine Entwicklung verweisen, die er so beschrieb:

„,Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!‘ Nur wenige Stimmen antworteten, als wir diese Worte in die Welt hinausriefen, vor nunmehr 42 Jahren, am Vorabend der ersten Pariser Revolution, worin das Proletariat mit eigenen Ansprüchen hervortrat. Aber am 28. September 1864 vereinigten sich Proletarier der meisten westeuropäischen Länder zur Internationalen Arbeiter-Assoziation glorreichen Angedenkens. Die Internationale selbst lebte allerdings nur neun Jahre. Aber dass der von ihr gegründete ewige Bund der Proletarier aller Länder noch lebt, und kräftiger lebt als je, dafür gibt es keinen bessern Zeugen als grade den heutigen Tag (also den 1. Mai – Manfred Sohn). Denn heute, wo ich diese Zeilen schreibe, hält das europäische und amerikanische Proletariat Heerschau über seine zum ersten Mal mobil gemachten Streitkräfte, mobil gemacht als ein Heer, unter einer Fahne und für ein nächstes Ziel: den schon vom Genfer Kongress der Internationale 1866 und wiederum vom Pariser Arbeiterkongress 1889 proklamierten, gesetzlich festzustellenden, achtstündigen Normalarbeitstag.“

Epochefragen

Dieser Aufschwung kam nicht aus dem Nichts. Seine Wurzeln liegen in der Entdeckung der inneren Gesetze der menschlichen Gesellschaft, die vielleicht am komprimiertesten zusammengefasst sind in den wenigen Sätzen von Marx in seinem Vorwort zur „Kritik der Politischen Ökonomie“, verfasst im Jahre 1859.

Auf drei Aspekte dieses Vorworts möchte ich hinweisen:

1. Das ist nach meiner Ansicht immer noch eine präzise Beschreibung der „Epoche“, in der wir uns befinden – so wie sich in dieser Epoche unsere Eltern und Großeltern befunden haben und aller Voraussicht nach auch unsere Kinder und Enkelkinder noch befinden werden. Die zeitliche Ausdehnung dieser Epoche hat Marx durch die Formulierung „langsamer oder rascher“ bewusst offen gelassen.

2. Allerdings erwarteten oder vielleicht besser „erhofften“ sich Marx und Engels namentlich in ihren jungen Jahren, als sie – beide um die 30 Jahre alt – das „Manifest“ zu Papier brachten, dass sie die Umwälzung des „ganzen ungeheuren Überbaus“ selbst noch erleben würden. Das war aus Gründen, die ich gleich zu erläutern versuche, nicht der Fall.

Diese Enttäuschung in der Dimension der Zeit (trotz der vorsichtigen Formulierung „langsamer oder rascher“) war – wir als Erben von Marx und Engels dürfen das so unverhohlen sagen – Irrtum Nummer eins.

3. Irrtum Nummer zwei war, dass diese Umwälzung zuerst in den damals fortschrittlichen kapitalistischen Nationen, also namentlich in Britannien, vielleicht auch in Frankreich oder anderen Staaten des westeuropäischen Halbkontinents, auf jeden Fall aber auf nationaler Stufenleiter stattfinden würde. Im Gefolge der Siege des dortigen Proletariats hätten dann andere, nicht so weit entwickelte Nationen im Windschatten dieses Erfolges ebenfalls die Chance, auf ihrem Territorium eine sozialistische Produktionsweise durchzusetzen – vielleicht sogar unter Überspringen der kapitalistischen Entwicklungsetappe.

Aber den arbeitenden Klassen in Britannien, Frankreich, Deutschland, den USA und anderen damit vergleichbaren Nationen gelang es nicht, die Führung in der Entwicklung ihrer Länder zu übernehmen. Das hatte tiefgreifende Konsequenzen, die bis in unsere heutige Zeit reichen.

Der genannte Text von Marx beschreibt also nach wie vor präzise das, was gegenwärtig passiert – aber mit zwei Nachschärfungen, die heute anzufügen wären:

  • Der Prozess dieser Umwälzung umfasst nicht Jahrzehnte, sondern Jahrhunderte.
  • Der Prozess vollzieht sich nicht im nationalen Rahmen, sondern spielt sich vor unseren Augen international, im globalen Rahmen, ab.

Wurzeln unserer Zuversicht II

Es ist weithin bekannt, dass es zwischen den beiden Freunden Marx und Engels so etwas wie eine wissenschaftliche Arbeitsteilung gab. Während sich Marx vor allem auf die Enthüllung ökonomischer Gesetzmäßigkeiten warf, konzentrierte sich Engels auf die Erforschung der Bewegungsgesetze der Natur – die Menschheit als einen Teil von ihr eingeschlossen. Das sollte in das große Werk „Dialektik der Natur“ eingehen, für das es bereits eine ausgearbeitete Struktur und einen Plan zum weiteren Vorgehen gab. Die Arbeiten daran hat Engels nach dem Tod von Marx gestoppt, weil er es für wichtiger hielt, die von Marx nicht mehr druckreif fertiggestellten zwei Nachfolgebände des „Kapital“ herauszugeben. Das war eine gewaltige Arbeit, über der die „Dialektik der Natur“ unvollendet und unveröffentlicht blieb – sie erblickte erst 1925 in Moskau das Licht der Welt.

Engels schrieb das alles zwischen 1873 und 1883, also als Mann in seinen 50er Jahren. Nach meiner Überzeugung enthalten seine Arbeiten von damals den letztlich tiefsten Kern unseres historischen Optimismus. Er schreibt unter anderem: „Mit den Menschen treten wir ein in die Geschichte. (…) Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepresst; wir haben damit die Produktion ins Unendliche vervielfacht, sodass ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher 100 Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach. (…) Erst eine bewusste Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht eine solche Organisation täglich unumgänglicher, aber auch täglich möglicher. Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datieren, in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Tätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmen werden, der alles Bisherige in den tiefen Schatten stellt.“

Imperialismus

In dieser „neuen Geschichts­epoche“ sind wir noch nicht – wir hängen noch in der Epoche der Umwälzung, die die Voraussetzungen für diese neue Epoche erst zu schaffen hat.

Zurück zur Frage: Warum haben wir in Westeuropa, wo doch der Marxismus und unter seinem Einfluss hunderttausende von Mitgliedern zählende Parteien entstanden, die Führerschaft in diesem Prozess verloren?

Die Antwort haben darauf Lenin und Luxemburg gegeben: Mit einer Mischung aus Unterdrückung revolutionärer Kräfte, kombiniert mit ideologischen Feldzügen einerseits und einer materiellen Bestechung großer Teile der arbeitenden Klassen andererseits ist es den herrschenden Klassen in den entwickelten kapitalistischen Ländern im 20. Jahrhundert gelungen, eine proletarische Revolution in ihren Ländern zu verhindern. Was aber ermöglichte ihnen diese Bestechung? Die Antwort, die Lenin und Luxemburg gegeben haben, lautet: Imperialismus. In diesem Wort verbirgt sich in konzentriertester Form die brutale Unterdrückung der gesamten von Westeuropa und später den USA kolonisierten Welt, die sie so ausbeuteten, dass der dort herausgepresste Extra-profit ihnen die Möglichkeit gab, große Teile ihrer eigenen Arbeiterklasse zu korrumpieren.

Dieser Prozess, dessen Ende sich jetzt abzeichnet, hatte drei wesentliche Konsequenzen:

1. Der Schwerpunkt der revolutionären Bewegungen verlagerte sich aus den kapitalistischen Hochburgen in Regionen mit den einerseits am meisten unterdrückten und ausgebeuteten Völkern, die andererseits in der Lage waren, gestützt auf die Erkenntnisse von Marx und Engels starke revolutionäre Bewegungen hervorzubringen.

2. Das Zusammenwachsen der Welt – ein objektiver Prozess – realisierte sich nicht unter Führung der internationalen Arbeiterklasse, sondern unter Führung der Bourgeoisien in den imperialistischen Hauptländern, unter Führung einer sich gegenseitig belauernden Räuberbande. Insofern ist Imperialismus pervertierter Sozialismus.

3. Damit aber vollzieht sich die Umwälzung des „ganzen ungeheuren Überbaus“, von der Marx schrieb, auf globaler Ebene und so verwandeln sich in deren Zug nicht mehr nur einzelne ländliche Regionen in Sumpflandschaften am Rande des geschichtlichen Hauptstroms, sondern ganze Nationen. Dies erklärt den systematischen Niedergang der alten imperialistischen Hauptländer – Britannien und Deutschland eingeschlossen – und den Aufstieg der unter der Führung der kommunistisch regierten Volksrepublik China in der BRICS-Kooperation zusammengeschlossenen Staaten.

Historische Verantwortung

Innerhalb der Epoche der Revolutionen befinden wir uns nach meiner Überzeugung im Unterkapitel „Die Dekolonisierung der Welt vollenden“. Es gibt nicht den Hauch einer Chance auf Kommunismus, wahrscheinlich noch nicht einmal eine Chance für einen hoch entwickelten Sozialismus, bevor es nicht gelingt, dem US/EU/NATO-Imperialismus das Rückgrat zu brechen. Das ist weltweit die entscheidende Aufgabe der nächsten beiden oder mehr Jahrzehnte.

Was bedeutet das für das 68-Millionen-Volk von Britannien und das 84-Millionen-Volk Deutschlands?

Ganz offensichtlich ereignen sich in unseren beiden Ländern gerade zwei fundamentale Prozesse:

1. Aufgrund der oben kurz angedeuteten Entwicklung der neuen Produktivkräfte vor allem in China und der in ihrem Windschatten wachsenden Möglichkeiten des gesamten Globalen Südens, für den Erwerb hoch entwickelter Produkte nicht mehr auf die alten imperialistischen Mächte angewiesen zu sein, vor allem aber aufgrund der fortschreitenden politischen und auch militärischen Befreiung vom alten Kolonialjoch, versiegen die Quellen zur Bestechung der arbeitenden Menschen in Westeuropa.

2. Während im 19. und 20. Jahrhundert die Ökonomien in Britannien, Deutschland und den USA Dinge wie Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Autos, Flugzeuge, Panzer und Schlachtschiffe produzieren konnten, die solche Länder wie Indien und China herzustellen nicht imstande waren, ist die Lage heute so: Es gibt keine einzige solche Ware mehr, die die Ökonomie in Deutschland herstellen kann und die in China nicht.

Auf lange Sicht wird das zu einer Rebellion führen. Die Vorläufer einer solchen erleben wir aufgrund unserer Schwäche und der Tatsache, dass alles nach Kommunismus Riechende seit Jahrzehnten in unseren Ländern mit einem Bann belegt ist, in Form eines Aufstiegs der angeblich gegen „die da oben“ rebellierenden AfD in Deutschland und ihnen ähnlicher chauvinistischer Bewegungen in Britannien. Beide sind insofern pervertierte Rebellionen. Folglich ist unsere historische Kernaufgabe in den nächsten beiden Jahrzehnten, aus dieser pervertierten Rebellion eine wirkliche Rebellion zu machen, durch die unsere beiden Völker Anschluss gewinnen an den Hauptstrom der Weltgeschichte.

Und diese Weltgeschichte kämpft sich weiter auf dem Pfad vor, der von Karl Marx und Friedrich Engels erstmals hier in London und Manchester entdeckt wurde.

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"Friedrich Engels und der historische Optimismus", UZ vom 12. Dezember 2025



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