Marx und Marxisten zu den Voraussetzungen der sozialen Revolution

„Wenigstens im Prozess ihres Werdens“

Diesen Text hat der Autor für die Rubrik „Marx Engels aktuell“ auf der Website der Marx-Engels-Stiftung geschrieben. In dieser Serie spiegelt Manfred Sohn einmal im Monat aktuelle Ereignisse an Aussagen der beiden Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus. Es geht darum, mit der marxschen Methode alles kritisch zu hinterfragen, darum, die moderne Welt besser zu verstehen. Wir haben den Text redaktionell geringfügig bearbeitet.

Generationen von Revolutionärinnen und Revolutionären haben seit den Tagen des „Kommunistischen Manifests“ weltweit dafür gewirkt, die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse zu überwinden und eine sozialistische Gesellschaft zu errichten.

Die Perspektive, für die sie kämpften und kämpfen, hat Karl Marx im Vorwort seines Werks „Zur Kritik der politischen Ökonomie“ so formuliert: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. (…) Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind. Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann (…).“

Auffallend an diesem viel zitierten Text ist, dass der Begriff der „Gesellschaft“ hier nicht näher erläutert wird. Was der Autor unter „Gesellschaft“ versteht, erhellt allerdings aus einem Verweis gleich zu Beginn dieses Vorworts: „Eine allgemeine Einleitung, die ich hingeworfen hatte, unterdrücke ich, weil mir bei näherem Nachdenken jede Vorwegnahme erst zu beweisender Resultate störend scheint (…).“ Dieser „hingeworfene“ Text ist aus seinem handschriftlichen Nachlass zum Glück erhalten und in ihm spricht er hinsichtlich der „Methode der politischen Ökonomie“ von einem „gegebenen Land“, das mit dieser Methode zu analysieren sei. Der Bezugsrahmen dieses Ende der 1850er Jahre entstandenen Textes ist also national, nicht global.

Die Welt ist seitdem nicht stehengeblieben. Sie war schon damals, wie die beiden jungen Männer Karl Marx und Friedrich Engels im „Kommunistischen Manifest“ von 1848 darlegten, geprägt durch die Herstellung des kapitalistischen Weltmarktes. Der entstand nicht harmonisch, sondern blutig unter der Fuchtel der – damals vor allem von Britannien angeführten – im rasanten Aufstieg begriffenen Großmächte Europas, die sich – einander wegbeißend – mehr und mehr den Rest der Welt untertan machten. Die so entstandenen Kolonien und Halbkolonien dienten dem europäischen Kapital nicht nur als Quellen weiterer Profite. Ein Teil dieser Profite wurde bewusst abgezweigt zur Ruhigstellung der „eigenen“ Arbeiterklasse in den Hochburgen des Kapitals. Die hatte zum Schrecken der gerade an die Macht kommenden Bourgeoisie in den 1848er-Revolutionen von Wien über Berlin bis Paris ihre grundsätzliche Bereitschaft dokumentiert, „den ganzen ungeheuren Überbau“ vom Kopf auf die Füße zu stellen, also Revolution tatsächlich zu machen. Die Schlussfolgerungen daraus hat Cecil Rhodes im Jahr 1895 so formuliert: „Ich war gestern im Ostende von London (Arbeiterviertel) und besuchte eine Arbeitslosenversammlung. Und als ich nach den dort gehörten wilden Reden, die nur ein Schrei nach Brot waren, nach Hause ging, da war ich von der Wichtigkeit des Imperialismus mehr denn je überzeugt. (…) Meine große Idee ist die Lösung des sozialen Problems, das heißt, um die vierzig Millionen Einwohner des Vereinigten Königreichs vor einem mörderischen Bürgerkrieg zu schützen, müssen wir Kolonialpolitiker neue Ländereien erschließen, um den Überschuss an Bevölkerung aufzunehmen, und neue Absatzgebiete schaffen für die Waren, die sie in ihren Fabriken und Minen erzeugen. Das Empire, das habe ich stets gesagt, ist eine Magenfrage. Wenn Sie den Bürgerkrieg nicht wollen, müssen Sie Imperialisten werden.“ Wir zitieren diese Einsicht hier anhand eines Werks des Marxisten Wladimir Iljitsch Lenin, weil die Frage, warum es denn – anders als noch von Marx und Engels mindestens erhofft – in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Westeuropa keine neue revolutionäre Erhebung gegeben hat, ohne dessen Einsichten schwer zu beantworten ist. Lenin hat nicht nur den britischen Imperialismus, sondern auch andere europäische Imperialismen studiert und zitiert in diesem Zusammenhang aus einem Werk eines französischen Autors: „Infolge der zunehmenden Schwierigkeiten des Lebens, die nicht nur auf den Arbeitermassen, sondern auch auf den Mittelklassen lasten, sieht man, wie sich in allen Ländern der alten Zivilisation ‚Ungeduld, Empörung und Hass ansammeln, die den öffentlichen Frieden bedrohen, wie sich deklassierte Energien, tumultuarische Gewalten anhäufen, die es einzudämmen gilt, um sie für irgendeine große Sache außerhalb des Landes zu gebrauchen, soll nicht eine Explosion im Innern erfolgen‘.“

Vulgär-flapsig formuliert: Die brutale Ausplünderung der ganzen außereuropäischen Welt hat zwischen 1850 und heute dem westeuropäischen (und seit 1918 dem US-amerikanischen) Kapital in seinen Kernländern den Arsch gerettet. Ohne die Ergänzung der Rücksichtslosigkeit gegenüber den eigenen Völkern, die die Herrschenden im Rahmen der von Marx so bezeichneten „ursprünglichen Akkumulation“ gezeigt hatten, durch eine mindestens ebenso brutale Rücksichtslosigkeit gegenüber Millionen und Abermillionen außereuropäischer Menschen hätte der „ganze ungeheure Überbau“ der bürgerlichen Gesellschaften auch in Westeuropa den heutigen Tag nicht erlebt.

Gestützt auf Lenin haben diesen Zusammenhang viele kommunistische Gruppen und Parteien in Westeuropa gesehen – und ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen daraus gezogen. Eine beschrieb Torkil Lauesen, ein dänischer Genosse, so: „Wir waren eine kommunistische Gruppe mit Sitz in Kopenhagen, gegründet Mitte der 1960er Jahre, und wir wollten eine Revolution in Westeuropa. Die dortige Arbeiterklasse war an höheren Löhnen interessiert, aber nicht am Sozialismus. Man war mit dem sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat durchaus zufrieden. Unsere Erfahrungen und Analysen des Kapitalismus führten uns damals zu dem Schluss, dass es ohne einen Sieg der ‚Dritten Welt‘ über den Imperialismus keine Revolution bei uns im imperialistischen Zentrum geben würde. Wir gingen vielmehr davon aus, dass dafür die sozialistischen Revolutionen im Globalen Süden die ‚Pipelines‘ kappen mussten, die den Wert von der Peripherie ins Zentrum ‚übertragen‘, von dem die Arbeiterklasse im Norden profitiert. Wir nahmen also eine globale Perspektive in Bezug auf die sozialistische Revolution ein.“ Lauesen schilderte dann, wie die „neoliberale Offensive (…) den antiimperialistischen Geist der 1960er Jahre“ zerschlagen habe und fügte mit Blick auf die jüngere Vergangenheit an: „Die Transformation ist in jeder Hinsicht gewaltig. Durch die Globalisierung (…) wurden auf der Suche nach höheren Profiten hunderte Millionen von Industriearbeitsplätzen aus dem Globalen Norden in die Niedriglohnländer des Südens verlagert. Im Jahr 1980 gab es im Globalen Süden ungefähr genauso viele Industriearbeiter wie im Norden. Heute sind es 85 Prozent im Globalen Süden!“ Anschließend beschrieb Lauesen, wie daraus – wie bei Goethes Zauberlehrling – mit China als Zentrum inzwischen eine Macht geworden ist, die sich nun gegen den imperialistischen Block mit seinem Doppelzentrum USA und Westeuropa wendet.

Im Kern und einige wenige Generationen imperialistischer Politiker von Cecil Rhodes bis Annalena Baer-bock mental zusammenfassend hat also der Versuch, die Revolution in Westeuropa durch aggressive Ausbeutung des Rests der Welt zu verhindern, nur zu einer Globalisierung revolutionärer Kräfte geführt. Das ist das Wesen der Prozesse, die sich gegenwärtig unter der Überschrift der Multipolarität und der Vollendung der Dekolonialisierung abspielen.

Zurück zu Marx in den späten 1850er Jahren: Der Prozess, den dieser in wenigen Sätzen skizzierte, findet in seinen Grundzügen genauso statt – nur eben nicht auf einer nationalen Basis, sondern globalisiert und dadurch komplexer als dies auf einer nur nationalen Ebene vonstattenginge. Im Zentrum dieses Prozesses steht ein Begriff, den Marx in den wenigen Zeilen gleich dreimal verwendet, als wolle er ihn als den zentralen Begriff allen Lesern ins Hirn hämmern: Produktivkräfte. Die Frage der Entwicklung der Produktivkräfte ist also von der Frage der revolutionären Umwälzung nicht zu trennen – sie steht vielmehr in ihrem Zentrum. Wer das nicht begreift, wird von der Geschichte verprügelt. Einer der zum Glück noch lebenden Zeugen dieser Einsicht, ein Verprügelter also, hat das kürzlich so formuliert: „Wir scheiterten (…) vor allem an der fehlenden ökonomischen Potenz. ‚Die Arbeitsproduktivität ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende für den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung‘, prophezeite Lenin 1919. Daran sind wir gescheitert. Die Chinesen haben gelernt – von Lenin und aus unseren Fehlern.“ Diese Einsicht stammt von Egon Krenz, dem letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR.

Eine Ergänzung ist vielleicht noch nützlich. Wir haben das Eingangszitat dort enden lassen, wo es vielfach in der Sekundärliteratur endet. Aber hinter „lösen kann“ geht der Satz noch weiter: Marx schrieb, „genauer betrachtet“ werde „sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind“.

Wer nur auf das westeuropäische Anhängsel des asiatischen Kontinents blickt, übersieht den Prozess des Werdens der materiellen Bedingungen der Lösung der revolutionären Aufgaben, die in dieser Welt heranreifen. Deshalb wäre es ein – früher durchaus verzeihlicher, mit unserem heutigen Wissen unverzeihlicher – Fehler, sich im deutschen Seitenarm der Geschichte als Revolutionäre in nicht revolutionären Zeiten misszuverstehen und zu versuchen, daraus eine politische Strategie abzuleiten. Das wäre ja so, als hätte derjenige Bauer in einem Dorf mitten im katholischen Eichsfeld im Jahr 1848 oder 1918 recht gehabt, der – sich die atemberaubenden Erzählungen von den Ereignissen in Frankfurt oder Berlin anhörend – geantwortet hätte: „Geht mich nix an – hier ist alles ruhig und friedlich und bleibt auch so.“

Cecil Rhodes, geboren 1853, gestorben 1902, in seiner Jugend geprägt durch längere Aufenthalte in Südafrika, 1890 bis 1895 Premierminister der Kapkolonie und einer der prägenden Politiker des britischen Imperialismus.

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"„Wenigstens im Prozess ihres Werdens“", UZ vom 9. Februar 2024



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