Nein, sie war keine Jugendrevolte, die breite Protestbewegung, die am 25. September in Madagaskar losbrach. Wenn in einem Land, in dem über zwei Drittel der Bevölkerung keine 30 Jahre alt sind, Demonstrationen von jungen Menschen dominiert werden – ist das dann bemerkenswert? Wohl kaum. Die Proteste, in westlichen Medien gern als eine bloße Jugendrevolte der Generation Z relativiert, hatten soziale Ursachen. Mehr als drei Viertel der Bevölkerung leben in extremer Armut. Über Strom verfügen gerade einmal 35 Prozent der Madegassen, direkten Zugang zu Trinkwasser haben lediglich 15 Prozent – und die Versorgung mit beidem ist in den vergangenen Jahren immer schlechter geworden. Strom- und Wasserausfälle sind an der Tagesordnung. Anlass zu Unmut gibt es also reichlich – und es kam noch hinzu, dass Präsident Andry Rajoelina, Spross einer wohlhabenden Offiziersfamilie, und seine Kinder ihren Reichtum unverhohlen zur Schau stellten. Die Wut in Madagaskar hatte sich angestaut. Sie trieb die Bevölkerung nun auf die Straße.
Will man den Charakter der Protestbewegung in Madagaskar einschätzen, dann tut man gut daran, nicht so sehr auf das Alter der Demonstranten, sondern vielmehr auf ihre ökonomische Stellung zu schauen – so, wie es etwa das neue französische Onlineportal „Communistes et matérialistes“ tat. Arbeiter? Die gibt es in Madagaskar kaum. Dort leben gerade einmal 5 Prozent der Bevölkerung von Erwerbsarbeit im formellen Sektor. Immerhin gut 2 Prozent sind Staatsangestellte. Die übergroße Mehrheit schlägt sich im informellen Sektor durch: als Händler, als Handwerker oder auch Kleinbauern. Neben ihnen nahmen an den Protesten auch Studierende teil, die an ihrem ersehnten sozialen Aufstieg unter anderem dadurch gehindert werden, dass die erwähnten Stromausfälle ihr Studium behindern. Die Interessen derer, die in Madagaskar an den Protesten teilnahmen, waren breit gestreut. Es waren die Interessen der Unterprivilegierten, aber auch diejenigen der nationalen Bourgeoisie.
Was die Demonstranten dabei neben ihrer Wut über die desolate soziale Lage und über die miserable Infrastruktur einte, das war die Wut auf die ehemalige Kolonialmacht Frankreich, die Madagaskar 1960 zwar offiziell in die Unabhängigkeit entlassen hat, die aber bis heute starken Einfluss ausübt. Präsident Rajoelina, der erstmals 2009 in einem von Paris gebilligten Putsch an die Macht gekommen war, hatte nach seinem vorläufigen Rückzug von der Staatsspitze 2014 die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Als er nach seinem Sieg in der Präsidentenwahl sein neues Amt antrat – das war Anfang 2019 –, erwies er sich als loyaler Garant französischer Interessen. Seine Wiederwahl im Jahr 2023, die laut verbreiteter Ansicht auf massiver Wahlfälschung beruhte, wurde in Paris begrüßt. Frankreich belohnte Rajoelina mit politischer Unterstützung und neuen Krediten. Der Versuch des Präsidenten, sich nach Beginn der Demonstrationen mit brutaler Repression – mindestens 22 Todesopfer – sowie mit einer am 29. September angekündigten Regierungsumbildung im Amt zu halten, scheiterte.
Am 13. Oktober verließ Rajoelina das Land – in einem französischen Militärflugzeug. Kurz zuvor hatte er noch einigen inhaftierten Franzosen, darunter französisch-madegassische Doppelstaatsbürger wie er, Amnestie gewährt. Am 14. Oktober übernahm das Militär unter Oberst Michaël Randrianirina die Macht. Der Deal mit Paris, der Rajoelinas Flucht ganz offensichtlich zugrunde lag, löste Unmut aus, zumal schon zuvor bei den Protesten nicht nur „Rajoelina raus!“, sondern auch „Rajoelina und Macron raus!“, beziehungsweise explizit „Frankreich raus!“ gefordert worden war. Am 20. Oktober schließlich ernannte Oberst Randrianirina, der sich am 17. Oktober zum Präsidenten hatte erklären lassen, den Unternehmer Herintsalama Rajaonarivelo zum Ministerpräsidenten. Rajaonarivelo ist international bestens vernetzt. Gearbeitet hat er im Lauf seiner Karriere unter anderem für die Weltbank und die EU. Er soll nun zunächst Madagaskars Infrastruktur verbessern, um die Proteste zu beenden.