Zu Volker Brauns neuem Gedichtband „Handbibliothek der Unbehausten“

Gesellschaftliche Entwürfe, bedacht und bedichtet

Von Rüdiger Bernhardt

Volker Braun: Handbibliothek der Unbehausten. Neue Gedichte. Berlin. Suhrkamp Verlag 2016, 109 S., 20.- Euro

Nur selten sind im neuen Gedichtband des Büchner-Preis-Trägers Volker Braun „Handbibliothek der Unbehausten“ Daten mit politischer Bedeutung zu finden. Aber politisch im besten Sinne des Wortes, also programmatisch, weil auf Bestandsaufnahme und Veränderung zielend, sind fast alle Gedichte, ausgenommen die wenigen, in denen der Dichter Privates beschreibt: Stammbaum und Alter. Im Gedicht „Gespräch über die Bäume im Gezi-Park“ (2013) geht es um die Räumung des Taksim-Platzes in Istanbul, als sich der Protest von Umweltschützern gegen das Fällen von Parkbäumen zum nationalen Protest gegen die Zerstörung der Demokratie steigerte. Braun schließt im Titel und im Gedicht durchgehend an Brechts „An die Nachgeborenen“ an, ein berühmter Text der deutschen Exilliteratur. Indem Braun das Brecht-Gedicht wörtlich aufnimmt und erweitert – das Gespräch schließt statt „vieler“ nun „alle Untaten“ ein – setzt es die gegenwärtige politische Entwicklung in der Türkei zum deutschen Faschismus in Beziehung. Im Gedicht „Das beschädigte Parlament“ ist ein Vorfall im Bundestag für Braun Anlass, den gefallenen Zivilisten in Afghanistan ein Podium zu schaffen; Abgeordnete der Linken hielten Zettel hoch, auf denen die Namen toter Zivilisten von Kundus standen, die Abgeordneten wurden ausgeschlossen: „Fürchtet man, dass die namentlich Genannten/Zählen, wie gültige Stimmen …?“. Auf solche politischen Vorgänge bezogen sind eine Handvoll der Gedichte.

Der Titel des Bandes wirkt aktuell, weil er an die Unbehausten erinnert, die auf der Flucht vor Krieg und Verfolgung in der Welt unterwegs sind. Braun hat auch sie im Blick, allerdings nicht als separaten Vorgang, sondern als Teil einer Welt und einer Gesellschaft, die zur Wildnis geworden sind, weil sie „abertausend“ Jahre Unwissen und geistige Unfähigkeit, damit auch geistiges Unbehaustsein, nicht beseitigen konnten, „Und kein Jahr kann es so weitergehn“ („Erfahrung“). Die Geschlossenheit der Konzeption, in der reale Politik und politischer Entwurf vereinigt werden, stellt eine neue Stufe im Schaffen Brauns dar. Sie ist die Folge einer Entwicklung, die die Welt in „Wilderness“ – in Wildnis, so ein Zyklus des Bandes – versinken lässt. Brauns lyrisches Subjekt fand seinen neuen Ansatz „am Kilometer Null der Empörung“ („Wilderness 5“) auf der Puerta del Sol (Tor der Sonne), einem bekannten und vielbesuchten Platz in Madrid, wo sich der Kilometer 0 der fünf Hauptstraßen Spaniens befindet. Aber in Klammer steht „Dschuang Dsi“. Mit dem Hinweis auf den chinesischen Dichter (365–290 v. d. Z) und sein gleichnamiges Werk weist der Dichter dem Leser den Weg durch die mit literarischen, historischen und philosophischen Verweisen durchwirkten Texte. Der Leser wird in die Sicherheit einer „Handbibliothek“ eingeführt, die verbürgtes, überprüfbares und gesichertes Wissen enthält, das abrufbar ist. Aber dieses Wissen ist nicht mehr an einen Ort gebunden, denn die Welt ist wild geworden und der Mensch wird zum Unbehausten. Bedrohungen sind näher gerückt, aber hoffnungslos ist Brauns lyrisches Subjekt deshalb nicht, im Gegenteil: „Was ist die Zeit, die Macht? Sie ist vermodert/Während des neuen Tages Sonne lodert“ („Die Leguane“). Das Bild findet sich ähnlich in Friedrich Schillers „Der Spaziergang“: „die Sonne Homers, siehe! sie lächelt auch uns“. Die Sonne mythischer Vergangenheit leuchtet, während Schiller den geschichtlichen Prozess seiner Zeit in Verbrechen und Verderben angekommen sah. An diese Idee scheint Braun anzuknüpfen, Weiterführungen der Menschheit sieht er im Rückgriff auf Bewährtes: Erinnerungen an das alte China, die Antike und die Klassik werden wach, dialektisch reflektiert unter Bezug auf Hegel („Chimerika 2“). Zitatmontagen und Anleihen bei anderen sind Hinweis auf das geistige Panorama, das Braun in diesen Überlegungen mitgedacht wünscht. Die Wanderung ist „Wandlung“ – ein wichtiger Begriff in Brauns Lyrik; sie ist das dauernde Bewegungsprinzip der Menschheit, die nie an ein Ziel kommt, sondern es stets vor Augen hat. Die Wanderung führt durch räumliche und zeitliche Gegenden, folgt literarischen Wanderungen wie Dantes Weg in das Inferno („Göttliche Komödie“) und trifft dort auf Schatten der Belehrung und Erkenntnis Suchenden, darunter Brecht und Eisler, Cremer, Busch und andere.

Die Gedichte sind nicht hoffnungslos, aber sie stammen von einem lyrischen Subjekt, das um die Gefährdungen der Menschheit ebenso weiß wie um den Untergang, das von Enttäuschungen zu sprechen weiß, die es erfahren musste und die auch sein Leben in Frage stellten, vor allem seine Mühen um eine neue Gesellschaft: „Kassensturz“ ist das Ergebnis der Veränderungen von 1989 bis 1990. In dem sprachlich saloppen, unpoetisch kalauernden Gedicht hat das lyrische Subjekt sich dem aktuellen umgangssprachlichen Ton der neuen Realität angepasst: „an das Eingemachte“ und „Ich krieg die Krise“ usw. 2006 beschrieb er in einer Rede die „dresdner Denkart“ als Einheit von „Arbeit und Leistung“, heute muss er auch das für gescheitert erklären: „Dummheit/Ists die dauern will“ (Das Elbtal). Andernorts war das anders. „Das Mannsfeld“ (sic!) und „Die Mettenschicht“ – beide Gedichte betreffen das Thema von Brauns Erzählung „Die hellen Haufen“ (2011) – benennen noch einmal die Folgen des Verlustes der Arbeit, erinnern an „Jahre hundert“, in denen gearbeitet wurde. Die Erinnerung ist so lebendig, „als hätte unser Wünschen nie ein Ende“. Arbeit wird zum Größten gesteigert: „Das höchste Wesen lebt in dem Gedicht/Vom Steiger, welcher kommt mit seinem Licht.“

Volker Brauns Vertrauen gehört weder den „Wir sind das Volk-Rufern“ noch deren Wünschen, es gehört der Zukunft. Das bedeutet die Veränderung und Überwindung der heutigen Gesellschaft, „bis kein Halten mehr ist, dann schafft sie sich ab/und ist gewesen“ (Die Gesellschaft). Für einen Neuanfang blickt der Dichter auf mythische und aufklärerische Positionen, Anfänge und Themen zurück. Deshalb greift er auch bei der eigenen Sehnsucht ins Rustikal-Natürliche (Das wünsch ich mir: Das Bretterhaus am Teich); gesellschaftliche Entwürfe führt er, mit an Georg Büchner erinnernden Bildern, auf Ursprünge zurück („Ein Riss/Geht hindurch bis zum Bodensatz/Die Grundsuppe aufgerührt.“ Die Gesellschaft). Es geht Volker Braun nicht um ein Ziel (Der Überfluss), sondern um die Bewegung, die von Entstehen und Vergänglichkeit erhalten wird. Brauns lyrisches Subjekt denkt eine Zukunft, die durch den Untergang der USA und den Aufstieg Chinas bestimmt wird: „Der Wahre Weg, ihr geht ihn, Söhne Maos./Die große Ordnung und das große Chaos.“ („Beim Wiederbetreten der Zickzackbrücke“).

Im Eröffnungsabschnitt und im Eröffnungs- und Schlussgedicht des ersten Abschnitts ist Goethe, wie auch in anderen Texten, gegenwärtig: Der erste Abschnitt der fünf Teile (vier Abschnitte, ein Anhang) trägt den Titel „Dämon“, das erste Gedicht des Abschnitts heißt „Bestimmung“. Die Form wirkt bekannt, achtversig erinnert sie an die Stanze, das Druckbild an Goethes „Urworte. Orphisch.“ Auch der Titel „Bestimmung“ ist ein solches Urwort. Das den ersten Abschnitt beschließende Gedicht heißt dann tatsächlich so wie Goethes Gedicht „Dämon“; Ähnlichkeiten – etwa die Verszahl – auch hier. Aber die Silbenzahl stimmt nicht überein; sie und die deutliche Gliederung des Gedichtes in zwei Vierzeiler verweisen auf die Romanze. Es entsteht eine Spannung zwischen klassischem Vermächtnis und romantisch anmutender Sehnsucht, anklingend im ersten eröffnenden Vers: „Ja, mein Sehnen geht ins Ferne“. Auch die in diesem Band sehr viel häufiger als sonst bei Volker Braun auftretenden Reime in den Gedichten, auch als Paarreime, verweisen auf dieses Konzept. An Eichendorffs Gedicht Mondnacht mit seiner weiträumig schweifenden Sehnsucht kann man denken, die „nach Haus“ möchte. Aber Braun, der solche Sehnsucht „nach Haus“ kennt, sieht seine Bestimmung darin, nicht seiner Fernensehnsucht zu folgen, sondern seiner „Bestimmung“, die irdisch ist und der Sehnsucht reale Ziele setzt: „Eingenäht in mein Gewebe/Hat sie ihren Ort gefunden“. Das Eröffnungsgedicht „Bestimmung“ ist das Programm des Bandes.

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Über den Autor

Rüdiger Bernhardt (Jahrgang 1940). Nach dem Studium der Germanistik, Kunstgeschichte, Skandinavistik und Theaterwissenschaft (Prof. Dr. sc. phil.) tätig an Universitäten des In- und Auslandes und in Kulturbereichen, so als Vorsitzender der ZAG schreibender Arbeiter in der DDR, als Vorsitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung (1994-2008) und in Vorständen literarischer Gesellschaften. Verfasser von mehr als 100 Büchern, Mitglied der Leibniz-Sozietät, Vogtländischer Literaturpreis 2018.

Er schreibt für die UZ und die Marxistischen Blätter Literaturkritiken, Essays und Feuilletons zur Literatur.

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"Gesellschaftliche Entwürfe, bedacht und bedichtet", UZ vom 16. Dezember 2016



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