Ausstellung über sozialistisches Design: Retrotopia in Berlin

Gestaltung fürs Leben

Petra Lehmann/Manfred Sohn

Der Ankündigungstext, der das Ganze vor allem als „Spiegel des geopolitischen Kräftemessens zwischen den beiden Supermächten USA und UdSSR“ betrachtet, könnte einen neugierigen Menschen abhalten vom Besuch der Ausstellung „Retrotopia – Design for socialist spaces“, die seit dem 24. März und noch bis zum 16. Juli im Kunstgewerbemuseum in Berlin zu sehen ist. Wer sogar den Fehler macht, vor dem Besuch der Ausstellung in den Ausstellungskatalog zu gucken, könnte auf den Besuch ganz verzichten. Beides wäre ein Jammer für jeden Menschen, der sich Neugier und Optimismus bewahrt – Neugier auf die Zeit von 1917 bis 1989, in der Millionen in Europa sich aufgemacht haben, um anders als kapitalistisch zu leben und Optimismus hinsichtlich der Frage, ob das vielleicht auch hierzulande noch einmal und dann noch dauerhafter den Alltag der Generationen prägen wird.

„Retrotopia“ zeigt eine Fülle von Exponaten aus der CSSR, der DDR und anderen Ländern des „Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW), in denen von den 1950er bis zu den späten 1980er Jahren des letzten Jahrhunderts auch für den Bereich des Wohnens und Gestaltens die Gesetze der Profitmaximierung vorübergehend außer Kraft gesetzt waren. Eine helle, von Nützlichkeit geleitete Freundlichkeit dem Menschen gegenüber, die sich in Kongresshallen, Wohnungen, Büromöbeln, Wohnungseinrichtungen, Gebrauchsgegenständen wie Geschirr, Musikanlagen und anderen Dingen materialisiert, kennzeichnet diese Jahrzehnte. Während Architektur und vor allem die Einrichtung großer Gebäude im Kapitalismus dem einzeln Eintretenden herrisch das Gefühl der Kleinheit und Bedeutungslosigkeit vermittelt, sind selbst Kongresszentren jener Zeit vor allem geprägt davon, den einzelnen Menschen, nicht das Gebäude, in den Mittelpunkt zu stellen und ihm oder ihr zu verdeutlichen: Du bist es wert. Obwohl – vielleicht mit Absicht – wichtige Gebäude mit hohem Symbol- und Wiedererkennungswert für deutsche Besucher, wie zum Beispiel der Palast der Republik, ausgespart werden, wird die Heiterkeit dieser damaligen Zeit deutlich, um einen Begriff von Gerhard Branstner aufzugreifen. Heiterkeit gluckst förmlich durch einen Film, mit dem die Einweihung eines Reha-Zentrums in Karlovy Vary in der CSSR gefeiert wird. Wenig erwähnt (das wäre etwas für einen Katalog gewesen, der diesen Namen verdient) sind die theoretischen und historischen Hintergründe der neuen Architektur – der fortschrittliche Teil der Bauhaustradition etwa, der mit den Namen Ulrich Müther oder Franz Ehrlich verbunden ist. Die freundliche Grundidee des Lebens im Sozialismus zieht sich durch die Alltagsgestaltung – Utopie, die damals begann, Realität, zu werden und in ihrer Entfaltung durch die Konterrevolution 1989 unterbrochen wurde. Sie wird nicht für ewig unter der Asche liegen. „Retro“ ist daher nur in rein zeitlicher Betrachtung der richtige Begriff für eine Ausstellung über diesen Zeitraum – zutreffen würde der viel mehr auf die rückwärtsgerichtete pervertierte Moderne, in der wir leben müssen und die auf den Trümmern des Palastes der Republik das Schloss der Hohenzollern wiedererrichtet. Für Jugendliche mögen die Darstellungen der Weltjugendfestspiele 1973 einen besonderen Stellenwert einnehmen, weil sie eine Ahnung davon vermitteln, welche Aufbruchstimmung möglich ist, wenn sich erst einmal Millionen junger Menschen in Bewegung setzen.

Trotz aller Einschränkungen und – Stichwort Palast der Republik – Selbstzensur ist der sinnliche Eindruck der Exponate so eindeutig, dass der bereits erwähnte Katalog auf 61 Seiten verzweifelt und irrational anpöbelt gegen das, was jeder Besucher dort selbst sehen kann. Den kann man je nach Stimmung entweder angewidert ins Regal zurückstellen oder als Dokument des heute üblichen „1984“-Neusprechs für die eigenen Enkelkinder mit nach Hause nehmen.

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"Gestaltung fürs Leben", UZ vom 19. Mai 2023



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