Warum das Lesen von Dante auch 700 Jahre nach seinem Tod lohnt

Hochkultur als Volksbesitz

Olaf Brühl

„Kommunist kann einer nur dann werden, wenn er sein Gedächtnis um all die Schätze bereichert, die von der Menschheit gehoben worden sind“ – mit diesem zentralen Satz verblüffte Lenin in seiner Rede die Jugendlichen auf der Tagung des Kommunistischen Jugendverbands am 2. Oktober 1920 zutiefst: die Truppen der Weißgardisten bedrohten unmittelbar Moskau und die revolutionäre Zuhörerschaft erwartete von Lenin Kampfstrategien! Ein Hauch von Bilderstürmerei lag in der Luft. Raffael solle zerstört werden, wurde zur Klampfe auf der Straße gesungen, als Lenin mit dem Auto das Kongressgebäude erreichte: und in seiner Rede empfahl Lenin – Raffael!

Lenins Satz erklärt dialektisch das hohe, praktische Kulturbewusstsein, Ausdruck starken Klassen- und Selbstbewusstseins der Sowjetbevölkerung, das bis heute nachwirkt und dem westlichen Marxismus so oft fremd bleibt.

1913 dante 01 - Hochkultur als Volksbesitz - Kultur, Literatur - Theorie & Geschichte
Raffael: Bildnis Dantes mit Dichterkranz. Detail aus dem Fresko „Disputa del Sacramento“ („Disput über das Sakrament“), 1510, Vatikan

Da der Tag der Geburt des Dichters Dante Alighieri im Mai oder Juni 1265 nicht bekannt ist, hat das Ministerium für das Kulturelle Erbe Italiens seit 2020 jenen Tag als nationalen „Dante-Tag“ bestimmt, an dem die Handlung seines Epos „Die Göttliche Komödie“ („La divina comedia“) beginnt. Verse der Dichtung verweisen auf den Karfreitag im Jahr 1300, einen 25. März. Mit Dantes Meisterwerk wird auch das Ende des Mittelalters und der Beginn der Renaissance – also der neuzeitlichen Epoche – angesetzt. Für Italien liegt die Bedeutung auf der Hand. Während die offizielle Sprache in Europa das Lateinische war, auf den Universitäten nur Lateinisch gelehrt wurde und alle Dichter traditionell Lateinisch schrieben, ermutigte Dante sich, sein Werk in der gemeinen Volkssprache seiner Heimat zu dichten – Sprache der Bäcker und Gemüsefrauen, höhnte später sein Kollege Petrarca – dem florentinischen Italienisch. Dies hat ihm das Volk bis heute gedankt, dies hat der nationalen Identität eine kunstreiche Orientierung geschenkt, emanzipiert vom Kirchenstaat, emanzipiert vom Imperium Roms. Der demokratische Impuls und die poetische Schönheit seines Epos regten Italiener aller Schichten immer wieder an, die gesamte Dichtung auswendig zu lernen, sich generell mit Dichtung zu befassen – Hochkultur als Volksbesitz. An der Größe Dantes bestand nie Zweifel. Der sowjetische Dichter Ossip Mandelstam sagte es sehr schön sinnlich in seinem „Gespräch über Dante“, das 1982 in der DDR in einer russisch-deutschen Ausgabe erschien:

„Großartig ist der Vershunger der alten Italiener, ihr raubtierhafter, jugendlicher Appetit auf Harmonie, ihr sinnliches Verlangen nach Reim – il disio! Der Mund arbeitet, das Lächeln bewegt den Vers, klug und fröhlich röten sich die Lippen …“

Dichtung, klar, will laut gelesen sein!

Wer war Dante?

Er war ein politisch Verfolgter, ein Flüchtender. Er kam aus einem angesehenen Haus und verkörpert den Stolz der aufstrebenden Bürgerklasse. Als Dante Alighieri um 1300, aus seiner republikanischen Heimatstadt Florenz verbannt, durch die von Kriegen und Fehden zerrissenen Staaten Italiens irrte, als Vogelfreier auch unter Freunden lebensgefährlich bedroht, schrieb er an einem immensen Versepos, das quasi ein Panorama seiner gesamten Welt auffächert. In einem Jahrzehnt zuvor soll er sich durch umfassendes Selbststudium Philosophie und Wissenschaft angeeignet, eine Familie gegründet und vier Kinder gezeugt haben sowie Mitglied des Rates der Republik Florenz geworden sein. All das verlor der Freie, demokratisch Gesonnene, als die Partei der Schwarzen, der Guelfen, an die Macht des Stadtstaates kam und Dante als den nicht ihnen Zugehörigen verstieß. Er sollte seine Heimat niemals wiedersehen und starb im Exil 1321 in Ravenna. In seinem Epos brechen all diese Konflikte auf – es gibt keine unpolitische Kunst. Mit direktem Bezug auf die drei klassischen Versepen von Homer und Vergil setzte Dante der Antike ein neues Selbstbewusstsein an die Seite. Natürlich konnte er nicht ahnen, als „letzter Dichter des Mittelalters und erster Dichter der Neuzeit“ gewürdigt zu werden: 1892 von Friedrich Engels, in der Vorrede zum „Manifest der Kommunistischen Partei“! Dante entwarf ein neues Bild vom Menschen, das aus Naturbeobachtungen gewonnen wird, nicht nur aus theologischer Spekulation – so in seiner Anatomie des Geschlechtsaktes (2, XXV).

Die „Göttliche Komödie“

Mit der „Göttlichen Komödie“ war dem Humanismus der Weg ins neue Zeitalter eröffnet, das sich von der Vorherrschaft der Kirche emanzipieren musste. Wie konnte dies einem Dichter inmitten der völlig klerikal dominierten Gesellschaft gelingen? Dante wendete gleichsam drei „Tricks“ an. Vorrangig beschreibt sein Epos die Struktur des christlichen „Jenseits“: 1. Hölle, 2. Läuterungsberg, 3. Paradies, das er in seinem Bericht einer imaginären Wanderschaft durchquert. Der fünfunddreißigjährige Dante, am Wendepunkt seines Lebens, geht von seiner „Midlifecrisis“ aus (verirrt in einem Wald, der aber auch die Gesellschaft meint) und unternimmt eine Reise in die „Unterwelt“. Der zweite Dreh: Er lässt sich in den ersten beiden Teilen von seinem antiken Lieblingsdichter und Vorbild, dem Römer Vergil, durch die Welt der Toten führen, einem „Heiden“, einem der „geretteten“ Nichtchristen. Drittens gibt der Reisebericht Dante technisch jede Gelegenheit, gemäß der Scholastik das gesamte damalige Wissen zu diskutieren sowie mit den Toten über die politische Gegenwart zu reden. Alle Zeitalter werden besichtigt, der Bogen reicht bis zum Weltbeginn. Dante kann Verdammten wie Geretteten sein eigenes Denken aus verschiedenen Perspektiven in den Mund legen und hat unerschöpflich Anlass, diese fantastische Szenerie in fortwährendem Weitergehen von einer Begegnung zur nächsten (wie von einem der ineinander greifenden Reime zum nächsten) in Bewegung zu halten, in realistischen Versen zu schildern, die Intonationen, Klänge, Farben zu wechseln und eine Fülle von Charakteren mit all ihren Schicksalen Revue passieren zu lassen. Streng hält er Gericht über seine Ära, zur Erkenntnis weisend. So entfaltete Dante in hundert Gesängen ein faszinierend lebendiges Gewebe, das im Dritten Teil wie im Traum, mystisch gesteigert, den Himmel als lichtdurchflutetes Paradies der Liebe visioniert, die alles bewegt. Von dieser universalen Weltschau lassen sich bis heute die Künstler zu immer neuen Auseinandersetzungen inspirieren und, kein Wunder, die Literaturberge über Dante wachsen weiter – wie die steten Versuche, sein Epos in andere Sprachen zu übersetzen.

Ein Welterfolg seit Jahrhunderten

Schon fünfzig Jahre nach Dantes Tod gründete Florenz speziell zur Erforschung der „Comedia“ einen Lehrstuhl. Giovanni Boccaccio (Autor des „Decamerone“) hielt dort seine Vorlesungen über das Werk. Er griff vor allem das Verbot seitens der Kirche an und verwies auf die reiche Bedeutungsvielfalt dieser Dichtung als Allegorie. Auch der Einfluss des Epos auf die Kunst Italiens ist unermesslich. Ohne es wären Giottos Fresken oder jene Luca Signorellis zum „Weltgericht“ im Dom von Orvieto undenkbar. Am berühmtesten wohl ist Sandro Botticellis luzider Illustrationszyklus zu den einzelnen Gesängen und Episoden der Dichtung. Er zählt zu den schönsten der Kulturgeschichte überhaupt. Viele Künstler folgten ihm, so im 19. Jahrhundert unter anderem Gustave Doré mit seinen Gravuren oder Eugène Delacroix in der Malerei. Auguste Rodin schuf das riesige „Höllentor“ aus Bronze.

Unter Zeitgenossen galt Michelangelo als ausgesprochener Dante-Experte und verstand sich geradezu als dessen geistiger Nachfolger, auch in politischer Hinsicht. In Vorbereitung der Arbeiten zum „Weltgericht“ für die Sixtinische Kapelle setzte er sich von Neuem mit dem Werk auseinander, dessen 14.233 Verse er ohnehin auswendig wusste. So ist das Ringen um heroische Vereinigung antiker und christlicher Kultur auf einer neuen, höheren Ebene auch der Kernimpuls von Michelangelos gewaltigem Schaffen und zuinnerst Dante verbunden. In Deutschland ist Goethes „Faust“ offensichtlich von Dantes Konzeption geprägt, deren systemische Ganzheit Hegel bewunderte. Die Romantik wurde nicht müde, sich in „dantesken“ Stimmungen zu ergehen und leistete viel für die Dante-Forschung. Auch in der Musikgeschichte wirkt Dantes Gedicht weiter: Insbesondere romantische Kompositionen sind von ihr angeregt, so mehrere von Liszt, Tschaikowski und Rachmaninow, bis zu Blixa Bargeld oder einer Reihe Metal-Bands, etwa Dreams of Sanity; ferner Schostakowitschs Vertonung des „Dante“-Sonetts von Michelangelo (1974). In einer der ersten Opern, dem „Orfeo“ von Monteverdi (1604), wird der populärste Vers aus dem „Inferno“ zitiert, die Inschrift des Höllentores: „Lasst alle Hoffnung zurück, die ihr hier eintretet!“ („Lasciate ogni speranza, voi ch‘entrate!“)

Obwohl durch die Gemetzel und Genozide der kolonialen Jahrhunderte stets furchtbar real, werden die Schrecken von Dantes „Hölle“ in unserer Zeit zur nicht nur künstlerischen Metapher für das unfassbare Grauen der Weltkriege, der faschistischen Vernichtungslager und Atomwaffen, das jede Vorstellungskraft sprengt.

Trotz Horror und tieferer Bedeutung zündete bei Puccini eine Episode im XXX. Gesang der „Hölle“ zur Idee der komischen Oper „Gianni Schicchi“ (1918). Die zeigt, wie eine gierige Verwandtschaft das Sterbelager des florentinischen Kaufmanns Donati umlauert und mit seinem letzten Seufzer das ganze Haus auf den Kopf stellt, um ein Testament zu finden. Doch der Verblichene hat in vorausschauender Rache all seinen Reichtum den Mönchen vermacht! Also wird kurzerhand die Leiche versteckt, Nachbar Gianni Schicchi gerufen und ins Bett des Toten gesteckt. Als Donati verkleidet, diktiert der nun dem herbeigeholten Notar vor allen Zeugen ein „besseres“ Testament. Natürlich geht die ganze Verwandtschaft am Ende wieder leer aus: Gianni selbst erbt alles – und seine Tochter kann den heiraten, der sie liebt.

Dantes Aktualität

Als der italienische Dichter, Filmregisseur und Kommunist Pier Paolo Pasolini „in der Mitte unseres Lebens“ desillusioniert das neue Erstarken und die Anschläge der faschistischen Kräfte in Europa erlebte („des Waldes Dunkelheit“), begann er eine moderne Übermalung von Dantes Werk in einer eigenen Prosa-Dichtung, der „Divina Mimesis“, die das gegenwärtige Inferno des faschismusgrundierten Spätkapitalismus beschreibt. Das zu Anfang der sechziger Jahre begonnene Vorhaben fokussiert die Sünden und Verbrechen der Bourgeoisie angesichts der Sklavenhölle Afrikas, die Pasolini durchreist hatte. Selbst einige Sequenzen in Filmen Pasolinis assoziieren Dante. – Die quasi cineastische Bild-Fantastik der „Göttlichen Komödie“ führte bereits 1909 zu dem etwa einstündigen Stummfilm „L’Inferno“, 1911 in Neapel mit internationalem Erfolg uraufgeführt. Der Sozialist und Antifaschist Raúl Ruiz drehte nach Dantes Epos den Experimentalfilm „Diablo Chile“ über das neoliberale Inferno des Pinochet-Putsches. 1985 starteten Peter Greenaway und Tom Phillips für BBC eine Serie „A TV Dante“, blieben aber in ihrem 1991 preisgekrönten Video bei nur acht Gesängen. Schließlich verfügt die bürgerliche Kunst ohne die Dimension einer historisch-materialistischen Dialektik über keinen Zugang, um Dantes universales Theatrum mundi auf zeitgemäße Weise transparent für die Prozesse heutigen Weltgeschehens zu machen. Für 2022 hat die US-Produktion Warner eine Spielfilmversion der „Neun Kreise des Infernos“ angekündigt. Ob dafür wohl in Guantánamo und Afghanistan recherchiert wird – oder bei McDonalds? Das dürfte eher unwahrscheinlich sein.

Indem passiver Konsum von Film alle eigene Fantasietätigkeit und Sinnsuche erübrigt, können Filme keine Adaption literarischer Werke leisten, geschweige einen „Ersatz“ für die Lektüre Dantes. Das Wesen der Dichtung besteht gerade in Wahrnehmung des sprachlichen Geflechts der Verse, deren Wortarbeit der Geist selber zum inneren „Film“ fügen muss. Selbst wenn die Lektüre ohne Kommentare nicht den Sinn erschließt: Dantes Epos selbst zu lesen wird immer eine Herausforderung bleiben, eine sinnlich-poetische Erfahrung, wie Mandelstam erinnert.

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"Hochkultur als Volksbesitz", UZ vom 14. Mai 2021



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