Die Grafikerin Gertrude Degenhardt ist gestorben

Kunst auf der Seite der Rebellen

Gertrude Degenhardt, deren unverwechselbare Kunst Generationen von Linken, Folk-Freunden und Irland-Liebhabern geprägt hat, ist am 12. November 2025 in Greifswald gestorben. Sie wurde 85 Jahre alt. Mit ihr verlieren wir eine leidenschaftliche Künstlerin, deren Werk tief in der Folkszene, im politischen Widerstand und in der Liebe zu Irland verwurzelt war.

Ihr Leben und Schaffen waren geprägt von einer tiefen Verbundenheit mit den Unterdrückten, den Vagabunden und den musizierenden Rebellen. Geboren 1940 im New-Yorker Exil und zweijährig nach Berlin gebracht, erlebte sie als Kleinkind die Schrecken von Naziherrschaft, Bombenkrieg und Nachkriegselend. 1956 siedelte die Familie nach Mainz über.

In den 1960er Jahren fand sie in Düsseldorf und Frankfurt Anschluss an den Freundeskreis um Franz Josef Degenhardt, dessen Bruder Martin sie 1964 heiratete. Sie wurde zur prägenden Grafikerin der westdeutschen Liedermacher- und Folkbewegung. Ihre Plattencover für „Väterchen“ Franz Josef Degenhardt, Hannes Wader oder Zupfgeigenhansel wurden ikonisch. Doch ihre Kunst war nie nur Dekoration. Schon in den Sechzigern entstanden erste Totentanzzeichnungen; ihr Plakat „35 Stunden sind genug“ unterstützte den Kampf der IG Metall. Später, in den 1990er Jahren, positionierte sie sich mit der Lithografienfolge „Die Fratze spielt auf“ unmissverständlich gegen Fremdenhass und Rechtsextremismus. In ihrer Farbradierung „So soll es bleiben“ setzte sie Hitler als Vogelscheuche auf einen toten Ast – eine bleibende Mahnung, die heute nichts von ihrer Aktualität verloren hat.

1974 nahm eine lebenslange Leidenschaft ihren Anfang: In diesem Jahr reisten Gertrude und Martin Degenhardt zum ersten Mal nach Irland. Sie erwarben ein Cottage in Spiddal bei Galway und teilten ihr Leben fortan zwischen der deutschen Heimat und der rauen Westküste Irlands. Das Land wurde zu einer unerschöpflichen Quelle ihrer künstlerischen Inspiration. Tief berührten sie die Werke des irischen Revolutionärs und Schriftstellers Liam O’Flaherty, dessen schonungslose Darstellungen des existenziellen Überlebenskampfes der Landbevölkerung sie in Bann zogen. Seine Erzählungen gaben den Anstoß zu einem ihrer umfangreichsten Illustrationsprojekte: Für die 1975 erschienene deutsche Ausgabe des Erzählbandes „Der Stromer“ schuf sie acht aquarellierte Zeichnungen und einundvierzig Schwarzweißradierungen. Sie fing den Lebenswillen, auch die Not der Armen ein, ohne sie je zu verraten. Mit skurrilen und grotesken Mitteln, aber stets mit warmherziger Sympathie für die gezeichneten Charaktere, porträtierte sie das einfache Volk von Connemara – und oft unter ihnen Martin und Gertrude.

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(Illustration: gertrude-degenhardt.de)

Ihr Galerist in Galway, Tom Kenny, erzählte, Passanten hätten immer wieder versucht, die surrealen Bewegungen der Figuren auf ihren Bildern nachzuahmen. Der irische Filmemacher Bob Quinn erkannte in ihrer Radierung einer jungen Geigerin den Moment, „in dem die Eleganz in die irische Musik kam“. Sie war eine scharfsinnige, dabei stets lachende Beobachterin, die uns unsere eigene Absurdität vor Augen führte – und zugleich an eine unserer erlösenden Kräfte erinnerte: die Musik.

In ihren späteren Jahren rückten zunehmend starke, exzentrische Frauen in den Mittelpunkt ihres Werks. In Serien wie „Vagabondage en rouge“ oder „Women in Music“ feierte sie musizierende, widerständige Frauen, die ihren Zorn über politische Dummheit und korruptes Handeln in die Welt hinauswirbelten und -geigten. Es sind Bilder einer unbändigen Lebenslust und eines ungebrochenen Selbstbewusstseins, das sie auch anderen als Beispiel geben wollte.

Ihr Stil war einzigartig: Sie verfremdete die Dargestellten mit skurrilen Mitteln und trieb den Ausdruck oft bis ins Groteske, ohne dass die Figuren ihre Erkennbarkeit und ihre warme Menschlichkeit verloren. Obwohl Einflüsse von Francisco de Goyas „Caprichos“ gesehen wurden, war ihre Kunst stets eigenständig und in ihrer Zeit verwurzelt. „Ihr Blick auf ihre Zeitgenossen ist nicht beengt, sondern klar und wahrheitsbesessen“, konstatierte der Kunstkritiker Peter Michel.

Ihr Leben war auch von großen Verlusten geprägt. Ihr geliebter Martin, ihr häufigstes Bildmotiv, starb 2002. Ihre Tochter Annette, Gitarristin und Komponistin, starb vor drei Jahren. Von diesen Schicksalsschlägen hat sie sich nie mehr richtig erholt.

Gertrude Degenhardt hinterlässt ein gewaltiges Werk – von Buchillustrationen über Plattencover hin zu Radierungen und großen Pinselzeichnungen. Sie war eine Künstlerin, die nie den Bezug zu den politischen und gesellschaftlichen Kämpfen verlor und deren Sympathien stets auf der Seite der Rebellen, der Benachteiligten, der Musiker und der unbeugsamen Frauen lagen. Ihr Werk ist ein leidenschaftliches, unbeugsames Plädoyer für das Leben, in all seiner Schroffheit, seiner Skurrilität und seiner Schönheit. Ihre Bilder werden auch in Zukunft als Aufruf zur Unbotmäßigkeit und zur Lebensfreude fortwirken.

Ní bheidh a leithéid arís ann. (Ihresgleichen wird es nie wieder geben.)

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"Kunst auf der Seite der Rebellen", UZ vom 28. November 2025



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