Der ehemalige Fußballprofi, Coach und Friedensaktivist wird 70

Lehrer Lienen

Friedhelm Vermeulen

Ewald Lienen wurde am 28. November 1953 geboren. Er wuchs zwischen Bielefeld und Paderborn auf, wenige Kilometer entfernt von der heute bedrohten Gedenkstätte Stalag 326 (siehe UZ vom 13. Oktober). Die Nähe zur Gedenkstätte hatte auf Lienen sicherlich weniger Einfluss als die Nähe zum örtlichen Fußballplatz. Dennoch: Er gehörte und gehört zu den Wenigen im Profisport, die mehr wollen als sportlichen und finanziellen Erfolg.

Seine Karriere als Fußballprofi begann Lienen 1974 in der 2. Bundesliga bei Arminia Bielefeld. 1977 wechselte er zu Borussia Mönchengladbach, wo er 1979 mit seinem Team den UEFA-Pokal gewann. Nach Wechseln zwischen Bielefeld und Mönchengladbach beendete er seine Spielerkarriere 1993 beim MSV Duisburg, für den er zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahre als Trainer der Amateure aktiv war. Die Profis übernahm er 1993.

Das Fremdeln mit dem Profisport nahm im Laufe der Jahre ab, doch seine Haltung bewahrte er sich. In seiner Autobiografie „Ich war schon immer ein Rebell“ beschreibt Lienen, wie komisch ihm das arrogante Getue anderer Spieler oftmals vorkam. Vor allem der Respekt vor anderen Menschen innerhalb und außerhalb des Vereins – seien es nun Fans, Reinigungskräfte, Cheftrainer oder Balljungen – war und ist ihm wichtig. Ein Beispiel ist seine öffentlich immer wieder geäußerte Abneigung gegen Autogramme. Seine Begründung: Prominente – seien es Profifußballer oder Schauspieler – sind nicht besser als diejenigen, die nach Autogrammen fragen. Wer meint, dass Lienen nur keinen Bock hatte, selbst viel Zeit mit dem Schreiben von Autogrammen und bei den Fans zu verbringen, der hat ihn noch nicht diskutieren sehen. Gerne erklärte er wieder und wieder ausführlich jedem Autogrammjäger seine Abneigung, seinen Namen auf ein Stück Papier zu schreiben.

Politisch ist Lienen als Gegner der Berufsverbote, als Friedensaktivist und als überzeugter Gewerkschafter in Erscheinung getreten. Er kandidierte bei den Landtagswahlen 1985 in Nordrhein-Westfalen für die „Friedensliste“. Ein „DKP-nahes“ Bündnis, wie ihm immer wieder vorgehalten wurde. Lienen macht keinen Hehl daraus, dass ihn viel von der Überzeugung eines Kommunisten trennt, aber der Aufforderung, sich von seiner angeblichen „DKP-Nähe“ zu distanzieren, ist er nicht nachgekommen. Noch vor wenigen Jahren schrieb er, dass er zwar viele Positionen der Partei nicht geteilt habe – vor allem nicht in Bezug auf ihre Haltung zur DDR –, die Kommunisten der DKP jedoch als aufrechte und überzeugte Menschen kennengelernt habe.

Als Lienen vom Spieler zum Trainer wurde, hatte sich nicht nur die Welt grundlegend verändert, auch er wechselte die Perspektive. In einem mehr und mehr durch Kommerz geprägten Geschäft übernahm er als Cheftrainer Verantwortung. Dabei war er durchaus erfolgreich, wenn auch nicht langfristig an einem Ort. Fast schon blauäugig stürzte er sich in jedes neue Engagement. Mit dem MSV Duisburg stieg er in die 1. Bundesliga auf. Mit Hansa Rostock schaffte Lienen in der höchsten Spielklasse eine überraschend gute Saison. Auch mit dem 1. FC Köln gelang ihm der Aufstieg in die Erstklassigkeit und er wurde zum Fan-Liebling.

Doch der Profisport erlaubte ihm nicht, seinen Traum wahr werden zu lassen: Ewald Lienen war und ist ein Fußballlehrer, jemand, der gerne mit Spielern arbeitet und sie aufbaut. Dafür braucht es Geduld, funktionierende Strukturen und eine langfristige Perspektive. Doch die gibt es in diesem Geschäft leider selten. Das Muster, das heute vor allem in Berlin und Köln schmerzlich bekannt ist, besagt: Nach einer erfolgreichen Saison werden finanzstärkere Vereine aufmerksam und kaufen die Spieler weg. Als Cheftrainer musste auch Lienen jede Saison von vorne anfangen, wofür ihm die Verantwortlichen der Vereine nicht die Zeit ließen. Und so folgte einer erfolgreichen Saison der Rausschmiss in der darauffolgenden.

Besonders skurril war jedoch Lienens Engagement bei AEK Athen. Bei „MagentaTV“ gibt es derzeit die Dokumentation „Ewald Lienen – Eine griechische Tragödie“ zu sehen. Lienen berichtet dort von unterernährten Spielern, die keinen Lohn erhalten haben und denen der Verlust ihrer Wohnung droht. Es ist die Zeit des EU-Schuldendiktats und auch AEK ist hoch verschuldet. Lienen kämpft unter schwierigsten Bedingungen gegen den Abstieg, doch die Verantwortlichen von AEK haben einen anderen Plan: Durch Abstieg und Insolvenz wollen sie den Verein von seinen Schulden befreien.

Endstation St. Pauli: Als Ewald Lie­nen 2014 Verantwortung beim FC St. Pauli übernimmt, scheint alles zu passen. „Fettes Brot“ singen damals „Die andern sind Erster – und besser als wir. Aber deine seltsame Art ist mir irgendwie lieber“, „Ewald Lienen – es reicht, wenn wir auf Platz 15 stehen“ und „Wenn es mehr wär‘, könnt ich eh nicht mit umgehen.“ Als er den Posten des Cheftrainers verlässt, hat man für ihn bereits einen neuen Posten geschaffen. Lienen selbst bezeichnete sich scherzhaft als „Außenminister“ des FC St. Pauli und war bis letztes Jahr für internationale Projekte und CSR – Corporate Social Responsibility – zuständig.

CSR bedeutete, dass der Friedenskämpfer Lienen am Ende seiner Fußballkarriere am runden Tisch mit Energieunternehmen über Ladestationen für Elektroautos vorm Millerntor-Stadion verhandelt. Das klingt traurig – ist es auch. Von Ewald Lienen ist heute bei Themen wie Russland oder Palästina kein Statement gegen den medialen Mainstream zu erwarten. Der Fußball-Experte weiß, wie schnell man ins Abseit gestellt wird. Das gilt vor allem für diejenigen, die wie er immer über die linke Flanke kommen. Aber wer seinen Podcast „Der Sechzehner“ verfolgt, der weiß: Seine Liebe zum Fußball und sein Respekt gegenüber jungen Spielern, Fans und allen anderen ist ungebrochen. Lienen gehört auch heute zu den Wenigen an der Spitze des Fußballgeschäfts, die sich einen Fußball jenseits der totalen kommerziellen Verwertung vorstellen können.

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"Lehrer Lienen", UZ vom 24. November 2023



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