Zur Erinnerung an den französischen Philosophen und Kommunisten Lucien Sève

Marxistisches Menschenbild

Rolf Jüngermann

Kaum jemals hat das Buch eines Philosophen von der anderen Seite des Rheins hierzulande einen solchen Einfluss gehabt wie das 1969 in Paris und drei Jahre später auf Deutsch erschienene Werk des französischen marxistischen Philosophen Lucien Sève mit dem Titel „Marxismus und Theorie der Persönlichkeit“. Es wurde schnell ein Anknüpfungspunkt für den marxistischen wie auch für große Teile des bürgerlichen Flügels der 68er-Rebellion in der BRD und begleitet bis heute viele Suchende auf dem Weg in eine spannende, im Aufbau befindliche neue Gedankenwelt. In der DDR führte das Buch zu einer teilweise kontroversen Rezeption, aus der unter anderem die Initiative zur Gründung der „Arbeitsgemeinschaft ‚Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten‘” bei der Akademie der Wissenschaften der DDR hervorging. Auch über den deutschsprachigen Raum hinaus fand das Werk großen Widerhall, erlebte 20 Übersetzungen. Vor wenigen Jahren wurde es in der BRD neu herausgegeben, was seine nach wie vor ungebrochene Aktualität belegt.

Durchbruch in der Marxismus-Diskussion

Sève traf einen Nerv der zeitgenössischen Marxismus-Diskussion. Seine Gedanken führten endlich heraus aus einer längst als einseitig, überholt und lähmend empfundenen Sichtweise, die besagte, dass alles Psychische gegenüber den ökonomischen Verhältnissen eine passive, untergeordnete Bedeutung habe, dass die Psychologie kein für Theorie und Praxis des Marxismus lebenswichtiges Element sei und dass ein Marxist nicht erst die Psychologie brauche, um klar zu sehen und richtig zu handeln. Was man zur damaligen Zeit darüber lesen konnte, ließ keinen Raum für Zweifel: der historische Materialismus, der wissenschaftliche Sozialismus waren ausschließlich eine Angelegenheit von unpersönlichen Realitäten – Produktivkräfte, Produktionsweise, Staatsapparate, Klassenkämpfe, Kräfteverhältnisse, Eroberung der Macht, Diktatur des Proletariats, Vergesellschaftung der Produktions- und Zirkulationsmittel. Nirgendwo trat dabei das Individuum in Erscheinung. Wer versuchte, die Rolle des Individuums einzubringen, bekam zu hören, dass damit das objektive Geschichtsverständnis im Psychologismus untergehen würde, dass die politische Klarsicht im Subjektivismus versinken würde, dass die proletarische Solidarität im Individualismus ihr Ende finden würde. Hans-Peter Brenner verweist in seinem Buch „Marxistische Persönlichkeitstheorie und die bio-psychosoziale Einheit Mensch“ auf Debatten Ende der 1970er Jahre: Für eine eigenständige Individual- und Subjektwissenschaft könne es innerhalb des Wissenschaftlichen Sozialismus keinen Platz geben, einerlei ob sie sich als „Marxistische Persönlichkeitstheorie“ (Sève), als „Kritische Psychologie“ (Holzkamp) oder wie sonst näher bestimmte.

Demgegenüber stellte nun Sève die Aufgabe, eine Theorie der Persönlichkeit zu entwickeln, die die Einzigartigkeit der individuellen Einzelpersönlichkeit, der Subjektivität seiner Motivationen, seiner Fähigkeit zu autonomem Handeln in den Mittelpunkt rückte. Dies in Anlehnung an die Arbeiten der sowjetischen Psychologen Leontjew und Wygotski und auch an die Erfahrungen des sowjetischen Pädagogen Makarenko. Betont wird vor allem die Rolle der gesellschaftlichen Arbeit, des gesellschaftlichen Lebens als Grundlage der menschlichen Persönlichkeit. „Die Quellen des menschlichen Bewusstseins und der menschlichen Freiheit müssen in der Sozialgeschichte der Menschheit gesucht werden.“ (Wygotski) Dabei geht es nicht darum, den ganzen Aspektreichtum der menschlichen Persönlichkeit auf diese eine Dimension zu beschränken, sondern darum, die Psychologie der Persönlichkeit auf die Analyse der Verhältnisse des gesellschaftlichen Lebens zu gründen.

Sèves Ansatz geht davon aus, dass das Wesen der menschlichen Existenz, der psychischen Aktivität, der Persönlichkeit nicht in erster Linie psychologischer Art ist, dem Menschen nicht angeboren und anerzogen ist. Das menschliche Wesen liegt vielmehr außerhalb seiner selbst, in den gesellschaftlichen Verhältnissen, in die er als „Ich, als empirisches, leibhaftiges Individuum“ (MEW 27) hineingeboren wird, deren Elemente er sich schrittweise aneignet und die er aktiv weiterzuentwickeln hilft. In den Worten von Marx: „… das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“ (MEW 3,6) Gegenüber möglichen Missverständnissen dieser Aussage von Marx ist festzuhalten: nicht der einzelne Mensch wird als Träger dieses „Ensembles der gesellschaftlichen Verhältnisse“ gesehen, er ist nicht etwa „Produkt“ dieser Verhältnisse, wie in verkürzten Lesarten gelegentlich unterstellt wird, sondern das menschliche Wesen zeigt sich in den von den Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnissen.

Stellung des Individuums

Auf die Frage, welche Stellung die Persönlichkeitstheorie im Rahmen des wissenschaftlichen Sozialismus tatsächlich einnehmen könne, stellt Lucien Sève fest, „Der Marxismus verlangt geradezu nach einer Theorie der Persönlichkeit. Für Marx [ist] die sozialistische Revolution gerade deswegen eine historische Gewissheit gewesen, weil die Zuspitzung der charakteristischen Widersprüche der kapitalistischen Produktionsverhältnisse für die Ausgebeuteten in ihrer Existenz als Individuen unerträglich wird und weil die Proletarier, nach einem sehr bemerkenswerten Satz aus der ‚Deutschen Ideologie‘, den Staat stürzen müssen, um ihre Persönlichkeit durchzusetzen“.

Mehr als dreißig Jahre später, im Jahre 2008, kommt Sève in seinem Buch „L’Homme?“(Der Mensch?) ausführlich auf das Thema zurück und bemerkt zum Verständnis der Rolle des Individuums – sinngemäß zusammengefasst:
Biologisch als Exemplar von Homo sapiens geboren, wird das Menschenjunge dennoch nicht als weitgehend kompletter Mensch geboren, liegt sein Menschsein doch fast ganz außerhalb seines Organismus: er muss es sich erst aneignen. Das menschliche Individuum sieht sich vor ein gigantisches Feld des Lernens gestellt, das es nur bewältigen kann, indem es beginnt, sich das vergegenständlichte Psychische anzueignen und anzuwenden. Dieses vergegenständlichte Psychische besteht vor allem aus Zeichen und Werkzeugen – im weitesten Sinne dieser Begriffe –, also aus Brauchtum, Gewohnheiten, Beziehungen, Wissen, Erfindungen und Phantasie etcetera, aus Realitäten also, die alles andere als organischer Natur sind. Sicherlich nimmt jede menschliche psychische Aktivität ebenso wie die der Tiere den Weg über neurobiologische Vorgänge. Doch kann auf diesem Feld nichts begriffen werden, wenn man nicht ausgeht von dem außerhalb der Organismen über Jahrtausende historisch-sozial akkumulierten Psychischen der Menschenwelt und von seiner biographisch je einzigartigen Aneignung durch jeden Einzelnen.

Allein während der letzten zwei Jahrtausende hat sich – bei weitgehend unveränderter biologischer Ausstattung – die Liste dessen, was die Menschen leisten können, unglaublich erweitert: Vulkanausbrüche verstehen und nicht mehr länger den Zorn der Götter fürchten, Differenzialgleichungen lösen, ein Werkstück aufbohren mit einer Präzision von einem Mikrometer, am offenen Herzen operieren, Millionen Menschen ins Krematorium schicken, im Zustand der Schwerelosigkeit experimentieren, einen Streik organisieren, ein Schaf klonen, Massen von Lohnempfängern zur Arbeitslosigkeit zu verdammen, um die Profitrate zu erhöhen, sechs Meter beim Stabhochsprung zu überspringen, eine falsche Note der zweiten Violine eines Orchesters herauszuhören, eine Bestellung im Internet aufgeben, sich entschließen, das Geschlecht zu wechseln …Es handelt sich um einen Vorgang, der im Tierreich nicht einmal ansatzweise zu beobachten ist. Die Bienen, über die der römische Dichter Vergil vor 2.000 Jahren schreibt, sind nacheinander Fütterungsbiene, Baubiene, Sammelbiene, ganz genauso wie die, welche wir heute beobachten.

Das alles nicht zu sehen, würde bedeuten, Gefangener eines Verständnisses von „dem Menschen“ zu bleiben, das durch den Beitrag von Marx von Grund auf überholt ist. „Der Mensch“, das sind – untrennbar verbunden – die „Welt des Menschen“ und die Menschen in dieser in Jahrtausenden von ihnen geschaffenen Welt. Die „Welt des Menschen“ ohne die Menschen, das ist der stumme Friedhof, die stummen Ruinen einer erloschenen Zivilisation. Die Menschen ohne die „Welt des Menschen“, das ist Homo sapiens an seinen Ursprüngen.

Wenn man hingegen ganz allgemein über den Menschen als solchen spricht, dann versetzt man, ohne es zu sagen und meistens sogar ohne es zu bemerken, ein nur in seiner Einbildung existierendes menschliches Wesen nach außerhalb der historisch-gesellschaftlichen Realität und löst es damit aus seinen aus dieser Realität mit Notwendigkeit sich ergebenden wesentlichen Bestimmungen. Und so ist die Psychologie – bei all den großen Fortschritten, die sie gemacht hat und weiterhin macht – nach Sève letztendlich nur möglich, wenn sie diesen historisch-sozialen, aktiv eingreifenden Charakter der menschlichen Persönlichkeit als fundamentale Erklärungsgrundlage alles dessen begreift, was den Menschen betrifft, wenn also die Psychologie auch Philosophie treibt.

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Lucien Sève (Foto: Francine Bajande / L’Humanité)

Der Kommunist Lucien Sève

Eng verbunden mit Lucien Sèves wissenschaftlicher Tätigkeit war seine politische Arbeit. Sechzig Jahre lang – von 1950 bis 2010 – war er Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs, davon 33 Jahre als Mitglied des Zentralkomitees (1961 bis 1994). Er war Leiter des Parteiverlags. Bis zum Schluss war er ein unbeugsamer, kritischer, rastlos tätiger Kommunist über alle Hoch-Zeiten und Niederlagen – und auch über seinen Austritt aus der Partei „ohne Zorn und ohne Tränen“ im Mai 2010 – hinaus.

Seine innerparteilichen philosophischen und politischen Auseinandersetzungen drehten sich vor allem um die notwendige Neuorientierung der kommunistischen Theorie und Praxis. In dem im Jahre 2019 erschienenen ersten Band seines auf zwei Bände angelegten letzten Buches „Le Communisme?“ (Der Kommunismus?) fasst er seine Auffassung über die Gründe für den Niedergang seiner Partei in den letzten Jahrzehnten im Kern wie folgt zusammen:

Es ist bekannt, dass der XXII. Parteitag der FKP im Jahre 1976 beschloss, auf den Begriff der Diktatur des Proletariats zu verzichten zugunsten eines – wie sie es damals nannten – „Sozialismus in den Farben Frankreichs“. Das eigentliche Problem dabei war nicht der Verzicht auf die Terminologie, sondern – so sieht es Sève – dass sich in der Folge die Partei als unfähig erwies, die geforderte neue alternative revolutionäre Strategie für Frankreich – und damit für entwickelte kapitalistische Länder überhaupt – wirklich zu entwickeln. Auf die in der Vergangenheit wirkungsmächtige, aber nach Meinung der FKP nicht mehr angemessene Strategie der Diktatur des Proletariats wurde also verzichtet, ohne dass man in der Lage war, eine aktualisierte neue Strategie von vergleichbarer revolutionärer Kraft an ihre Stelle zu setzen. Vielmehr wurde dann bald das so entstandene theoretische und politische Vakuum gefüllt durch den strategischen Rückzug auf den Kampf um Mandate im bürgerlichen Parlamentarismus, dem Kernstück der Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Das bedeutete den Niedergang einer revolutionären Organisation zu einer Partei wie alle anderen – eine revisionistische und damit letztendlich selbstmörderische Entwicklung, wie sich gezeigt hat.

Heute stehen wir vor der Aufgabe, eine neue revolutionäre Strategie zu entwickeln, die dem überlebenswichtigen Übergang zu einem nachhaltigen Post-Kapitalismus angemessen wäre. Das aber wird nach Sèves Auffassung weithin nicht erkannt, obwohl – so Sève im Dezember 2019 – „der Kommunismus schon da ist, sich überall verbreitet, sei es als Möglichkeit, sei es als Realität. Es fehlt die intellektuelle Kühnheit, die Zeit für den Übergang zum Kommunismus jetzt für gekommen zu halten, zu nichts Geringerem als zum Kommunismus. Das entscheidende Hindernis ist nicht der Gegner, sondern sind wir selbst.“

Wenige Wochen später starb Lucien Sève am 23. Februar 2020 an den Folgen von Covid-19. Wegen seines Alters von 93 Jahren wurde er in der Pariser Klinik als „nicht prioritär“ eingestuft und erhielt keinen Zugang zu einem Beatmungsgerät.

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"Marxistisches Menschenbild", UZ vom 19. Juni 2020



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