Luz’ „Zwei weibliche Halbakte“

Mit besonderem Blick

Im Jahr 1919 erschafft Otto Müller das Bild „Zwei Mädchenakte“, später bekannt unter dem Titel „Zwei weibliche Halbakte“. Dem Bild wird Schlimmes widerfahren.

1925 wird es von dem jüdischen Kunstsammler Ismar Littmann gekauft, einem bekannten Mäzen der Breslauer Kunstszene und Förderer junger Maler. Die Nazis nehmen ihm seine Anwaltslizenz, er verliert seine Lebensgrundlage und stirbt 1934 an den Folgen eines Suizidversuchs. Littmanns Ehefrau Käthe hält an seiner Entscheidung fest, die Sammlung zu veräußern, um den Kindern ein neues Leben fernab der Nazis zu finanzieren. Doch wenige Tage vor der geplanten Versteigerung wird „Zwei weibliche Halbakte“ als „kulturbolschewistische Darstellung pornographischen Charakters“ von der Gestapo beschlagnahmt. Es landet in der Ausstellung „Entartete Kunst“.

Dem Bild und seiner Geschichte hat der französische Zeichner Luz den Band „Zwei weibliche Halbakte“ gewidmet. Luz – Überlebender des Anschlags auf die Redaktion von „Charlie Hebdo“ – hat damit nicht nur ein Stück Zeitgeschichte eindrücklich festgehalten und ein bedrückend realistisches Bild von Verfemung, Verzweiflung und Krieg gezeichnet. Er hat für den Comic über ein Bild eine ganz besondere Perspektive gewählt: Die Leserinnen und Leser nehmen den Standpunkt des Bildes ein – sie sehen und hören nur, was sich vor dem Bild zuträgt – und wenn es zum Transport in eine Decke gewickelt wird, wird es auch mal komplett dunkel.

Und so sieht man zu Anfang erst mal – nichts. Weißes Papier mit Sprechblasen darauf, das ist alles. Doch schnell entsteht eine Hand, dann die Umrisse zweier Mädchenköpfe, die Silhouetten der Figuren, die „Zwei weibliche Halbakte“ darstellt. Je mehr entsteht, desto mehr sehen die Leserinnen und Leser: Das Gesicht Otto Müllers, seine Hand, die den Pinsel führt, schließlich einen Neugierigen, der im Wald an dem Künstler und seinem Modell vorbeiläuft und wissen möchte, auf welch merkwürdigem Material Müller malt.

Als das Bild fertig ist, steht der Ausschnitt, durch den die Leserinnen und Leser für den Rest der Seiten die Welt betrachten. Was sie sehen, ist größtenteils schrecklich. Die Aussicht von der Wand des Kunstsammler Littmann ist nur kurz schön, schon bald erblickt man durchs Fenster Nazis durch die Straßen Breslaus marschieren, blickt auf die steigende Verzweiflung des Anwalts und schließlich wohnt man seinem Suizid bei.

Luz gelingt es, durch das wenige, das das Gemälde mitbekommt, ein klares Bild zu zeichnen von „des Führers Lieblingsmaler“ Adolf Ziegler und seinem als Theorie getarnten, verblendeten Hass auf Kunst und ihre Aussagekraft. Kein Wunder, denn das war dem Zeichner Luz Anliegen: „Ich habe mich viel mit der Münchner Ausstellung ‚Entartete Kunst‘ beschäftigt. Da wurden Kunstwerke buchstäblich zu Feindbildern gemacht. Darin sehe ich eine Parallele zu meinen eigenen Erfahrungen. Deshalb wollte ich die Geschichte eines der Bilder aus dieser Ausstellung erzählen, die unfreiwillig zur beeindruckendsten Zusammenstellung von Malerei des 20. Jahrhunderts geworden ist.“ Und tatsächlich, während man die Zeit des Bildes in der Ausstellung mitverfolgt, ist man selber geneigt, sich in die Ausstellung zu wünschen, hing dort doch ein großartiges Bild neben dem anderen. Viele dürften deswegen die Ausstellung besucht haben – nicht umsonst sahen in München mehr als zwei Millionen Menschen die Ausstellung, dreimal so viele wie die über „ordentliche deutsche Kunst“, die gleichzeitig stattfand.

„Zwei weibliche Halbakte“ übersteht den Krieg und landet schließlich im Museum Ludwig in Köln. 1999 wird es an die Nachkommen von Ismar Littmann restituiert und vom Museum zurückgekauft.

Wer bis zu dieser Stelle neugierig war und der Bildersuche im Internet widerstanden hat, wird belohnt: Am Schluss zeigt Luz seine Interpretation von „Zwei weibliche Halbakte“.

Luz
Zwei weibliche Halbakte
Reprodukt Verlag, 192 Seite, 29 Euro
Erhältlich unter UZ Shop

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