Am 13. September verabschiedeten sich 50 Genossinnen und Genossen, Freundinnen und Freunde zwischen 20 und 80 von Jörg Högemann. Jörg gehörte zur Gründergenaration der DKP und ihrer Bezirksorganisation in Südbayern. Er starb am 21. Juli im Alter von 90 Jahren. UZ dokumentiert Auszüge aus der Trauerrede von Johannes Wendl, Bezirksvorsitzender der DKP Bayern.
Jörg gehörte zu den Genossen, von denen man sagen kann, ohne sie würde es seine Partei, unsere DKP, die Deutsche Kommunistische Partei, vielleicht nicht mehr geben.
Viele der Anwesenden werden mehr gemeinsame Zeit, mehr Gespräche, Diskussionen und Auseinandersetzungen mit Jörg gehabt haben. Viele haben Jahre, vielleicht sogar Jahrzehnte mit ihm verbracht. Ich selbst war vor einigen Jahren, nachdem ich nach München gezogen war, mit ihm in einer Parteigruppe.
Was mir schon damals auffiel, waren die Ernsthaftigkeit und der ehrliche, tiefe Respekt, der Jörg von den Genossinnen und Genossen entgegengebracht wurde. Über die Jahre habe ich gelernt, woher dieser Respekt kam.
Im April, zu seinem 90. Geburtstag, waren wir mit Jörg bei den Münchner Philharmonikern. Aufgeführt wurde die 8. Symphonie von Dmitri Schostakowitsch, die Stalingrad-Symphonie. Es war ein schöner Abend mit Jörg und seiner Partnerin Renate. Einige Genossen waren dabei und da war er wieder zu spüren: dieser tiefe Respekt vor Jörg.
Vor dem Konzert luden wir die beiden zum Essen ein. Angesprochen auf seinen 90. Geburtstag sagte Jörg, er beabsichtige die 100 Jahre vollzumachen. Schließlich würden wir in einem der interessantesten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte leben – und davon wolle er nichts verpassen.
Wenn es auch kein ganzes Jahrhundert geworden ist, so war Jörg nicht nur ein Zuschauer, ein Beobachter, sondern war Teil der Entwicklungen und griff in sie ein.
Geboren in Braunschweig, in eine sozialdemokratische, durch den Faschismus aber weitgehend entpolitisierte Familie, war Jörg in seiner Schulzeit zunächst der faschistischen Propaganda ausgesetzt. Die Endphase des Krieges erlebte er mit seinem jüngeren Bruder bei Bekannten seiner Mutter auf dem Land. Später verbrachte er einige Zeit bei seinen Großeltern im zerbombten Braunschweig. Trotz der gewerkschaftlichen Tradition der Familie empfand Jörg diese Zeit als ideologische Einzäunung, tendierte politisch zeitweise sogar zu Konrad Adenauer. Während der Lehre zum Schriftsetzer war er dann selbst gewerkschaftlich aktiv.
Danach, mit 23 Jahren, fing – wie Jörg sagte – die„politische Lehrzeit“ an. Er begann sein Volkswirtschaftsstudium in Münster und fand schnell Kontakt zum SDS. Den Eintritt bezeichnete er später als „Urknall seines eigentlichen Lebens“. Die SPD-Karrieristen ließ er rechts liegen, schwankte aber lange zwischen zwei linken Fraktionen innerhalb des SDS. Er traf auf Ulrike Meinhof, damals Redakteurin der Zeitschrift „Konkret“, deren Freundschaft ihn in seiner politischen Entwicklung sehr prägte. Unzählige Diskussionen, Teilnahme am Studentenkongress gegen Atomrüstung, verantwortlich für den Verkauf der „Konkret“, später dann der erste eigene Artikel. Meinhof war es auch, die ihn für die Mitarbeit in der Bundesgeschäftsstelle der gerade gegründeten „Deutschen Friedens-Union“ (DFU) unter Leitung von Renate Riemeck gewann. Wenn auch der Bundestagswahlkampf 1961 nicht von Erfolg gekrönt war, lernte Jörg dort einiges über Bündnispolitik und politische Kampagnen. Dort schloss er Bekanntschaft mit Kurt Bachmann, Mitarbeiter der VVN-Zeitung „Die Tat“ und später erster DKP-Vorsitzender. Dieser nahm sich viel Zeit für die Gespräche mit Jörg und nahm ihn schließlich 1961 in die illegale KPD auf.
In der DFU lernte Jörg seine erste Lebenspartnerin Elvira kennen, mit der er nach der Hochzeit 1962 nach München zog. Auch als junger Vater setzte er seine politische Arbeit fort: In München knüpfte er Kontakte, zog Verbindungen.
Conrad Schuhler berichtete mir kürzlich über ihr erstes Zusammentreffen – Jahre vor ihrer gemeinsamen Arbeit im Bezirksvorstand der DKP Südbayern. Eines Tages, so erzählte er, kam Jörg in sein Büro im Soziologischen Institut der Münchner Universität. Sie kannten sich nicht. Jörg war auf seine Veröffentlichungen aufmerksam geworden und wollte ihn für die KPD gewinnen. Sie diskutierten – über Ernst Bloch, das Verhältnis von Arbeitsproduktivität und Freiheit in der DDR. Aus der KPD-Mitgliedschaft wurde damals nichts, aber Jörg stellte eine Verbindung her.
So etwas in der damaligen Zeit zu beginnen, dazu gehörte Mut. Aber auch Vertrauen in die Partei und die Bereitschaft, dafür selbst ein persönliches Risiko einzugehen.
Jörg schrieb später, dass er damals nicht so recht begreifen konnte, warum viele der älteren Genossinnen und Genossen so sehr auf der Legalität der Kommunistischen Partei beharrten. Sein Schwiegervater Jupp Ledwohn, der unter Adenauer für seine politischen Überzeugungen eingesperrt war, überzeugte ihn von der Bedeutung der Legalität der Kommunistischen Partei.
Und Jörg kämpfte für deren Legalität. 1967 war er als Leitungsmitglied der illegalen KPD verantwortlich für Bündnispolitik und gründete mit Martin Löwenberg und anderen das Kuratorium „Notstand der Demokratie“. Im April 1968 hatte sich in München ein „Aktionskomitee Münchner Kommunisten für die Wiederzulassung der KPD“ gegründet, dessen Motor Jörg war. Er sprach auf einer Kundgebung in Giesing und wurde am Ostbahnhof zwischenzeitlich festgenommen. Im Mai erschien ein Flugblatt „Schluss mit dem KPD-Verbot – Münchner Kommunisten stellen sich der Diskussion“. Auf dem Flugblatt mit Bild und namentlich genannt: 12 Genossen. Darunter: „Jörg Högemann, Journalist, 33 Jahre“.
Es muss eine prägende Zeit gewesen sein.
Später dann, nach der Neukonstituierung der DKP 1968 und der Gründung des Bezirks Südbayern im Frühjahr 1969, war Jörg im Bezirksvorstand für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich, kandidierte für den Münchner Stadtrat und knüpfte weiter Verbindungen. Er schrieb für die UZ viel Wahres, etwa über die „Aktion Seeufer“ der DKP Anfang der 1970er Jahre: Unter dem Motto „Seeufer für Millionen, nicht für Millionäre“ verteidigten die Genossinnen und Genossen das verfassungsmäßig garantierte Recht auf freien Zugang zu bayerischen Naturschönheiten auf dem See-Anwesen des Barons von Fink. Jahrzehnte später erinnerte Jörg daran, dass dessen Sohn heute die AfD finanziert. In seinem damaligen UZ-Bericht hatte er dagegen auch Positives zu berichten: Über einen vorbeiziehenden Trachtenumzug schrieb er: „Viele in ihren Trachten schlossen sich unserer Demo und unserem Protest an.“
In den Verwerfungen während und nach der Konterrevolution um 1990 blieb Jörg seiner Sache und der DKP treu. „Menschlich grundanständig“, aber auch „stolz auf seine Unbeweglichkeit“ beschrieben ihn einige seiner früheren Weggefährten. Ich denke, das trifft es nicht ganz. Jörg hat sich seine Gedanken gemacht.
Als kleiner Junge, als er ahnungslos die in der Schule eingetrichterte Nazipropaganda nachplapperte, fuhr ihm seine Mutter über den Mund. Während seiner politischen Lehrzeit im SDS stand Jörg lange zwischen verschiedenen Positionen. Viele Personen prägten seine politischen Ansichten, laut eigenen Aussagen: der „nicht zu stillende Drang, selber zu denken“ seines Großvaters, „die überirdische Geduld“ Meinhofs in der Auseinandersetzung mit seinen Vorurteilen, die Gespräche mit Kurt, die ihm „für viele Probleme und Gesichtspunkte erst den Blick öffneten“, die „strikt auf Sache und Thema bezogene Diskussion“ mit Jupp.
Jörg hat sich seine Gedanken gemacht, dabei auch einmal geirrt und Positionen revidiert. Hatte er einen fundierten Standpunkt gefunden, vertrat er ihn. Für ihn war Sinn und Zweck der Kommunistischen Partei „die Mobilisierung der Arbeiterklasse für den Sturz des Kapitalismus und die Errichtung des Sozialismus“.
Als in seiner Partei über Grundsätzliches gestritten wurde, schloss er sich nach gründlicher Überlegung 2011 dem Münchner Betriebsaktiv an, um sich für den Wiederaufbau der DKP auf marxistisch-leninistischer Grundlage einzubringen. Mit Beiträgen für die Zeitschrift „Theorie und Praxis“ zur Interpretation des Leninisten Antonio Gramsci und mit Zwischenrufen an die „junge Welt“ zur Neuauflage von Lenins Imperialismusschrift stritt er für die Anwendung unserer Weltanschauung auf die Herausforderungen unserer Zeit. Er bezeichnete den 20. Parteitag 2013 deswegen als „Grundvoraussetzung“ für die Stärkung der DKP als Partei im Sinne von Marx, Engels und Lenin. Spricht man mit den Genossinnen und Genossen, die sich in dieser Zeit für den Fortbestand der totgesagten DKP Südbayern einsetzten, merkt man, welche Sicherheit ihnen Jörg gegeben hat.
Nach der zwischenzeitlichen Auflösung 2017 und Neugründung des Bezirks Südbayern war Jörg wieder im Bezirksvorstand und hielt folgerichtig die Rede zu dessen 50-jährigem Bestehen.
An dem Konzertabend im April berichtete Jörg von einem Gespräch bei einem seiner vielen Arztbesuche. Er erzählte, wie er eine beiläufig gestellte Frage seiner Ärztin aufgriff und in eine politische Richtung wendete. Genau abwägend, wie weit er dabei gehen konnte, fest auf dem eigenen Standpunkt beharrend, den der Ärztin im Blick, den Fokus auf die Möglichkeit richtend, ihr einen seiner Gedanken mitzugeben.
Ebenso machte er es dann auf der Intensivstation, diskutierte dort nachts mit der Schwester über das imperialistische Interesse der USA an Seltenen Erden aus China und was das nun mit uns zu tun hat.
„Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen, man muss sie auch in dem anderen aufbauen.“ Ein Satz, den ihm Meinhof einmal gesagt hatte – er bewunderte sie für diese Fähigkeit sehr.
Offenbar hatte Jörg über die Jahrzehnte viel gelernt. Ihm gelang es in den letzten Jahren nicht nur einmal, bei Unterschriftensammlungen für den Wahlantritt der DKP oder gegen die US-Mittelstreckenraketen mit großem Abstand die meisten Unterschriften zusammenzubringen. Solange es seine Kräfte ermöglichten, stand er an jedem Infotisch. Bis zuletzt ließ er es sich nicht nehmen, sich an den Treffen und Diskussionen seiner Parteigruppe zu beteiligen.
Mit Jörg verlieren wir deshalb nicht nur lebendige Geschichte unserer Partei, sondern auch einen Genossen, der bis zuletzt mit uns diskutiert, gestritten und gekämpft hat. Gerade für uns jüngere Genossinnen und Genossen bedeutet es viel, einen so standhaften Genossen gekannt zu haben.
Wenn einer mit 90 Jahren, nach Jahrzehnten des Klassenkampfs, des Auf und Ab unserer Bewegung, der Siege und Niederlagen noch sagen kann: „Die 100 Jahre will ich vollmachen“, so sagte Jörg das in Freude über die sich abzeichnende neue Weltordnung, wenn auch im Wissen, dass der Niedergang des Imperialismus die Gefahr eines großen Krieges in sich birgt.
Wenn Jörg sagte, er wolle noch mehr, dann steckte darin die Sicherheit, an der Seite der unterdrückten Völker und der Proletarier aller Länder zu stehen.
Und wenn einer noch diesen Optimismus und diese Neugier auf die Zukunft der Menschheit ausstrahlt, dann strahlt das auch auf seine Genossinnen und Genossen aus und gibt Kraft. Das war Jörg – und dafür hat er unseren tiefsten Respekt verdient und bleibt unser Vorbild.