1,3 Millionen Kinder leben in Armut. So meldete kürzlich das Kinderhilfswerk UNICEF. Bekanntlich kümmert sich das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen vorwiegend um Kinder in armen und vom Krieg zerstörten Ländern. Doch bei dieser Zahl geht es um Deutschland, noch immer die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt. Auch bei der Anzahl der Superreichen steht Deutschland an dritter Stelle.
Ermittelt wurde der Stand der hausgemachten Kinder- und Jugendarmut vom Deutschen Jugendinstitut im Auftrag der UNICEF. Detailliert wird dargelegt, was sich circa 10 Prozent der Kinder in Deutschland nicht oder selten leisten können. Der Mangel reicht vom fehlenden zweiten Paar Schuhe bis zur unbeheizten Wohnung, vom fehlenden Frühstück oder Mittagsessen bis zur sozialen Isolation und schlechten Bildungschancen. Das Ausmaß der Kinder- und Jugendarmut ist laut der Studie größer als beispielsweise in Portugal, einst eines der Armenhäuser Europas.
Kinderarmut ist nichts Neues in Deutschland. Es gab sie schon immer, auch in den Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders. Der Unterschied zu heute: Damals gab es noch eine Aufstiegserzählung.
Diese soziale Schere erlebte ich als Kind sehr krass in der Schule, vor allem in der vierten und fünften Klasse. Ich lebte damals mit meinen Eltern und meiner kleinen Schwester in einer Wohnung der DGB-Genossenschaft „Neue Heimat“, die im kriegszerstörten Deutschland für neuen Wohnraum sorgte. Zuvor hatten wir jahrelang in einem Abbruchzimmer gelebt. Arme Kinder und Kinder aus Arbeiterfamilien „gehörten“ auf die Hauptschule. Schaffte es doch mal ein armes Kind ans Gymnasium, bekam es zu spüren: Du gehörst hier nicht her. Ein deutlicher Unterschied zur DDR, wo die Befriedigung der Grundbedürfnisse aller an erster Stelle stand und Kinder aus der Arbeiterklasse einen vorrangigen Zugang zu höherer Bildung hatten.
Und heute? Arme Kinder bekommen mehr zu spüren denn je: Du gehörst hier nicht her. Weil andere es ja vermeintlich „geschafft“ haben, seien ihre Eltern „selbst schuld“. In der „Aufstiegsgesellschaft“ der 1950er bis 1980er Jahre schafften tatsächlich viele den Aufstieg und manchem erschienen Entbehrungen eher verkraftbar im Glauben, das sei vorübergehend.
Heute leben wir im dritten Jahr der Rezession. Reiche werden immer reicher. Und wer heute arm ist, wird es meistens bleiben. Arme Kinder bekommen seltener eine Bildung, die Aufstieg ermöglicht. Arme Mütter und auch Väter, die mit ihren Kindern um die Existenz der Familie kämpfen, werden in der Altersarmut landen. Auch ein „stabilisiertes“ Rentenniveau von 48 Prozent, wie es die SPD wacker erhalten will, wird sie nicht vor der Altersarmut bewahren. Privat ansparen für die Rente sollen wir laut Deutschlands reichem Kanzler Friedrich Merz. Aber: Wie soll jemand für die Rente ansparen, wenn er seinen Kindern kein zweites Paar Schuhe kaufen kann? Wer arme Kinder aufzieht, wird auch im Alter arm sein. So entsteht aus Armut neue Armut.
Dabei gäbe es wirksame Soforthilfen, von der Stärkung der Familien über ein warmes und kostenloses Mittagessen für alle, wie es in vielen Ländern üblich ist, von echten Ganztagsschulen bis hin zu einer gezielten Förderung für jedes Kind, ohne Stigmatisierung. Möglich wäre es, wenn wir unser Geld nicht mehr in Raketen und Rendite investieren, sondern in Kinder, Alte und Kranke.
Unter dem Titel „Arm und glücklich?“ schrieb Ruth Frölich schon in der UZ vom 21. Februar über die Auswirkungen von Armut auf Kinder und Jugendliche, ihre Erfahrungen, seltsame Umfragen, unterschiedliche Perspektiven und soziale Sprengsätze.


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