Polens Staatspräsident Karol Nawrocki in Berlin zu Gast bei Freunden. So war die Idee. Vor dem Besuch hieß es offiziell: „Die Versöhnung mit Polen nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Besatzung zu befördern, bleibe für die Bundesregierung historische Verantwortung.“ Es folgte ein kurzer Auftakt in Zweisamkeit, die „Neue Zürcher Zeitung“ (NZZ) hielt fest: „Er empfing seinen Gast auf dem Balkon des Kanzleramts, gemeinsam blickten die beiden Männer über die deutsche Hauptstadt.“
Drinnen dann die unangenehme Ansage des Gastes: Wenn Deutschland endlich die seit Jahrzehnten offene Rechnung über 6,22 Billionen Zloty (1,35 Billionen Euro) Kriegsreparationen ausgleiche, werde sich Polen Deutschland gegenüber erkenntlich zeigen und den Großteil der kostenintensiven Stärkung der NATO-Ost-Flanke übernehmen. Prompt fiel die Pressekonferenz aus, es war noch nicht einmal Zeit für das obligatorische antirussische Statement zweier NATO-Waffenbrüder.
Auch beim Bundespräsidenten lief es nicht anders. Einziges Lebenszeichen: Ein Tweet aus Schloss Bellevue kurz vor Mittag: „Zur Forderung des polnischen Staatspräsidenten nach Reparationen betonte der Bundespräsident, dass diese Frage aus deutscher Sicht rechtlich abschließend geklärt ist.“ Kurz darauf konterte Nawrocki: „Die Frage der Reparationen ist natürlich nicht rechtlich abgeschlossen.“ Was ist dran an der Forderung, deren Grund und Höhe auf knapp 1.500 Seiten eines polnischen Parlamentsgutachtens aus dem September 2022 erläutert wird?
Zur Antwort auf die Frage ist ein kurzer Ausflug ins Völkerrecht hilfreich. Wie das Bundesverfassungsgericht wiederholt festgestellt hat, trägt die Bundesrepublik Deutschland prinzipiell für jedes vom Deutschen Reich verübte Verbrechen die Verantwortung, zumindest was die Wiedergutmachung betrifft. In den gedrechselten Worten der Karlsruher Richter: Die BRD ist nicht bloß „Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches, sondern als Staat identisch mit dem Staat ‚Deutsches Reich’“. Eine ungeschminkte Wahrheit: Deshalb kann sich Deutschland weder von der Verantwortung für den Völkermord an den Völkern der Herero und Nama freisprechen, der in den Jahren 1904 bis 1908 durch das deutsche Militär auf dem Gebiet des heutigen Namibia verübt wurde, noch von den Besatzerverbrechen der Wehrmacht und SS 1941/1942 in Griechenland.
Polen war 1939 das erste Opfer des Zweiten Weltkriegs. Die Nazi-Soldateska hinterließ Millionen Tote, zerstörte polnische Städte und Dörfer. Deutschland entkäme nur dann der Haftung, wenn in internationalen Verträgen etwas Abweichendes zur Reparationsfrage geregelt worden wäre oder Polen auf Reparationen verzichtet hätte. Eine Verjährung gibt es bei den in Rede stehenden Kriegsverbrechen nicht. Schon vor Kriegsende hatten sich Westalliierte und Sowjetunion auf der Konferenz von Jalta am 11. Februar 1945 geeinigt, dass Deutschland Reparationen in großem Umfang werde leisten müssen. Das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 legte konkret fest, dass die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) Reparationsforderungen der UdSSR zu bedienen hatte, Polen sollte hieraus 15 Prozent erhalten. Da die Sowjetunion die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen hatte, wurden die Westzonen verpflichtet, zusätzliche Ausgleichszahlungen an die UdSSR zu leisten. Auf Vorschlag der Sowjetunion belief sich der Reparationsumfang auf 20 Milliarden US-Dollar.
Ab dem 16. August 1945 setzten polnische und sowjetische Regierungsstellen die Vereinbarung um. Als nach fünf Jahren die laufenden Reparationsleistungen zusehends den wirtschaftlichen Neuanfang auf dem Gebiet der DDR beeinträchtigten, fasste das Politbüro der SED am 9. Mai 1950 den Entschluss, „an die Regierung der UdSSR mit der Bitte heranzutreten, die in den Abkommen von Jalta und Potsdam festgelegten Reparationsverpflichtungen Deutschlands zu vermindern“. Prompt setzte die UdSSR die noch zu zahlenden Reparationen auf die Hälfte herunter und vereinbarte im August 1953 im Einverständnis mit der DDR und der Volksrepublik Polen, die Reparationen zum 31. Dezember 1953 auslaufen zu lassen. Die polnische Regierung erklärte am 23. August 1953 wörtlich: Da „Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist (…) hat die Regierung der Volksrepublik Polen den Beschluss gefasst, mit Wirkung vom 1. Januar 1954 auf die Zahlung von Reparationen an Polen zu verzichten“.
Die Reparationsleistungen der Westzonen an die UdSSR waren bereits am 25. Mai 1946 auf Geheiß des US-Militärgouverneurs Lucius D. Clay eingestellt worden. Letztlich hatte die kleine SBZ/DDR somit 4,292 Milliarden US-Dollar (inklusive des polnischen Anteils) aufgebracht. Laut Abschlussbericht der Interalliierten Reparationsagentur (IARA) entfielen auf die Westzonen lächerliche 0,52 Milliarden US-Dollar.
Der polnische Reparationsverzicht wurde am 7. Dezember 1970 anlässlich der Unterzeichnung des „Warschauer Vertrags“ gegenüber dem deutschen Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) und durch den Notenwechsel zwischen Polen und Deutschland (Oktober 1991) bestätigt. Anlässlich des „Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland“ („Zwei-plus-Vier-Vertrag“, 12. September 1990) hatte Polens Außenminister Krzysztof Skubiszewski folgerichtig auch kein Wort zur vermeintlich offenen Reparationsfrage verloren. Aktuell hält Polen den 1953 erklärten Verzicht für unwirksam, da es damals als „Halbkolonie“ unter sowjetischem Druck gehandelt habe, konkrete Belege hierfür werden nicht vorgelegt.
Rechtlich wird die polnische Regierung die Forderung nicht durchsetzen können. Was Merz und Steinmeier dazu meinen, muss einen nicht kümmern, wirft doch der Vorgang ein Schlaglicht auf die dunklen Konstanten deutscher Nach- und Vorkriegs-Außenpolitik. Während die Achsenmächte Japan (1951/1954) und Italien (1947) Friedensverträge mit milliardenschweren Reparationsklauseln abschlossen, hat die BRD in den Jahren 1950 bis1952 sechs Mal die ausgestreckte Hand der DDR (namentlich Wilhelm Piecks und Otto Grotewohls) und der Sowjetregierung zu gesamtdeutschen Konsultationen, Wahlen und dem Abschluss eines Friedensvertrags mit geringschätzig-arroganter Geste weggeschlagen. Auch 1989/1990 im Zuge der Annektion der DDR haben sie sich verstohlen durch die Hintertür davongemacht, wenn nur das Wort „Friedensvertrag“ zu hören war.
Ganz so, wie es Kohl-Berater Horst Teltschik im Interview des „Deutschlandfunks“ vom 14. März 2015 formuliert hat: „Wir wollten ja keinen Friedensvertrag (…) bekanntlich war das Nazi-Regime mit über 50 Ländern dieser Welt im Kriegszustand. Und stellen Sie sich vor, wir hätten im Rahmen eines Friedensvertrages Reparationsforderungen von über 50 Staaten auf dem Tisch gehabt.“