Glaubt man den deutschen Leitmedien, den Regierenden, den Verfolgungsbehörden und pro-zionistischen Think-Tanks wie der Amadeu-Antonio-Stiftung oder der „Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ (RIAS), erleben wir in Deutschland seit zwei Jahren eine Welle antisemitischer Massenmobilisierung. Denn alle, die gegen den Genozid im Gaza-Streifen auf die Straße gehen, werden von diesen Akteuren grundsätzlich und pauschal als (potentielle) Antisemiten dargestellt. Der für seine rassistischen Kampagnen gegen arabische, kurdische und Roma-Familien und -Geschäfte bekannte Innenminister Nordrhein-Westfalens, Herbert Reul (CDU), brachte diese Sicht am 16. Mai 2024, als er die Gruppe Palästina Solidarität Duisburg (PSDU) verbot, so auf den Punkt: „In vielen Fällen verbirgt sich hinter der Solidarität mit Palästina nichts anderes als Judenhass.“
Bunt und massenhaft für Palästina
Eine am vergangenen Mittwoch veröffentlichte interdisziplinär erarbeitete Studie gibt Anlass, diese Darstellung in Zweifel zu ziehen. Prof. Dr. Felix Anderl und Dr. Tareq Sydiq vom Zentrum für Konfliktforschung (ZfK) der Philipps-Universität Marburg haben Daten „zur Zusammensetzung, Motivation und politischen Haltung der Teilnehmenden des bislang größten Palästina-Solidaritätsprotests in Deutschland“ erhoben und ausgewertet. Gemeint sind die „All Eyes on Gaza“- und „Zusammen für Gaza“-Demos in Berlin, an denen am 27. September 2025 bis zu 150.000 Menschen teilnahmen. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des INTERACT-Zentrums der FU Berlin und des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) befragten sie über 300 Teilnehmer mittels Online-Fragebögen. Hinzu kamen 43 Kurzinterviews vor Ort.
Die Forschenden stellen fest: „Die Teilnehmenden waren überwiegend jung, hoch gebildet und politisch links verortet.“ Zwei Drittel waren zudem Studierende und/oder Lohnabhängige. Weiter heißt es: „Ihr Protest war deutlich bürgerlich-zivilgesellschaftlich geprägt und konzentrierte sich auf gewaltfreie, legale und kommunikative Ausdrucksformen.“ Fast die Hälfte geht regelmäßig auf Demonstrationen. Um die 60 Prozent gaben an, sich an Boykotten zu beteiligen, Petitionen zu unterschreiben und zu spenden. Auffällig sei zudem „eine differenzierte politische Haltung“, so die Autoren der Studie: „Während eine klare Unterstützung für die Anerkennung eines palästinensischen Staates bestand, wurde gleichzeitig ein besonderer Schutz jüdischen Lebens in Deutschland befürwortet.“
Diese Ergebnisse decken sich zu einem großen Teil mit denen einer Befragung aus dem Jahr 2011, die von Prof. Dr. Wilhelm Kempf und Prof. Dr. Rolf Verleger erarbeitet wurde. Diese kam zu dem Ergebnis, dass deutsche Israel-Befürworter insgesamt schlechter informiert waren als Palästina-solidarische Menschen, dass sie im Gegensatz zu Letzteren durchweg eine gewaltsame Lösung des „Konflikts“ befürworten, und dass sie zu Autoritarismus und Vorurteilen – sogar gegenüber Juden – neigen.
Beide Studien untermauern die subjektive Erfahrungen, die die meisten gemacht haben dürften, die sich in den letzten Jahren in Deutschland für Palästina engagiert haben. Die zahlreichen und teilweise riesigen Palästina-Demonstrationen sind – ganz im Gegensatz zu den wenigen, kleinen Versammlungen für Israel – im wahrsten Sinne des Wortes bunt. Man sieht Teilnehmer mit unterschiedlichsten kulturellen und nationalen Hintergründen, und das politische Spektrum reicht von „unpolitisch“ über islamisch-konservativ bis radikal links. Dass diese Tatsachen derart negiert werden, erhärtet den Verdacht, dass die Herrschenden lediglich ihren eigenen Rassismus, ihre eigene Menschenfeindlichkeit und ihre eigene Vernichtungspraxis auf all jene projizieren, die sich gegen den von ihnen selbst tatkräftig unterstützten Völkermord in Palästina stellen.
Repressive BRD
Ein „besorgniserregendes Bild“ liefert den Autoren der neuen Studie zufolge die Frage nach Repressionserfahrungen. Dass „nahezu die Hälfte der Teilnehmenden mindestens einmal von repressiven Maßnahmen betroffen war“, sei „erstaunlich, da ein knappes Drittel der Teilnehmenden zum allerersten Mal auf einer Demonstration mit Gaza-Bezug war.“ Unter denjenigen, die an mehr als fünf Palästina-Protesten teilgenommen hatten, lag der Wert bei 70 Prozent, bei Personen, die sich an mehr als 20 beteiligt hatten, bei über 83 Prozent.
Auch dieses Ergebnis dürfte sich mit den subjektiven Erfahrungen der meisten Palästina-Aktivisten in Deutschland, nicht nur in Berlin, decken. Während diese Tatsache von deutschen Leitmedien weitgehend ignoriert wird, wachsen die internationale Aufmerksamkeit für und Kritik an der anti-palästinensischen Unterdrückungspolitik der BRD zusehends. Nachdem zunächst vor allem Menschenrechtsorganisationen regelmäßig über die Einschränkung der Grundrechte und die Gewalt gegen die Palästina-Bewegung berichtet hatten, wandten sich im vergangenen Juni auch der EU-Kommissar für Menschenrechte und am 16. Oktober eine UN-Expertengruppe an die deutsche Regierung und forderten ein Ende der Zensur und Gewalt gegen die Palästina-Solidaritätsbewegung.