Franzobel zur Eröffnung der Klagenfurter Literaturtage

Politik, ein Dschungelcamp

Das alljährliche Spektakel, genannt „Tage der deutschsprachigen Literatur“ und verbunden mit reichlich Preisgeld für den „Ingeborg-Bachmann-Preis“ fand zum 41. Mal in Klagenfurt statt. Der ORF überträgt live und stundenlang die Lesungen der Kandidatinnen und Kandidaten, diese haben 25 Minuten, um aus einem neuen, noch unveröffentlichten Text vorzulesen. Dann debattieren die sogenannten Juroren, meist selbstgefällig und mit viel Schwall, der Vorleser hat keine Gelegenheit, sich zu dem Gerede noch mal zu äußern. Diese Jury war dann angetan von Ferdinand Schmalz, der den Text vorlas „mein lieblingstier heißt winter“, die Geschichte eines Eismannes, der eine Leiche verstecken soll. Die Abwesenheit von Großbuchstaben, rhythmische Inversionen, sprechende Namen und tiefgekühltes Essen, vor allem Rehragout, sind nur einige der tonangebenden Elemente dieses poetischen und absurd anmutenden Textes.

Erfreulich an der gesamten Veranstaltung war die Eröffnungsrede des österreichischen Schriftstellers Franzobel, der selbst 1975 den Bachmann-Preis erhielt, aber die Gelegenheit nutzte, um deutliche Worte zu finden:

Tatsache ist, die Welt wartet nicht auf neue Texte. Die Slogans „der mit Spannung erwartete Roman von XY“ oder „das lange herbeigesehnte neue Werk von YZ“ sind Chimären der Verlage. Tatsächlich wartet keiner, ist die Literatur ein Nischenmarkt, ein Spezialitätengeschäft für Connaisseurs. Es hat ja niemand mehr Zeit zum Lesen – zumindest für nichts, das länger ist als eine Facebook-Statusmeldung oder eine WhatsApp-Nachricht.

Der Vereinswechsel eines Zweitligaspielers bekommt wesentlich mehr Öffentlichkeit als der neue Roman eines Bachmannpreisträgers, von dem der Durchschnittsbürger wahrscheinlich gar nicht weiß, was das ist.

Da werden Billiarden für Rüstung ausgegeben, fehlt aber angeblich Geld für Bildung. Aus Profitgier und Hegemonialstreben werden die Kyoto-Protokolle zum Klimaschutz ebenso ignoriert oder umgangen wie sämtliche Menschenrechtschartas. Jährlich ertrinken 5.000 Flüchtlinge im Mittelmeer, noch immer verhungern Kinder oder fehlt es ganzen Völkern an Medikamenten, Wasser, Grundnahrungsmitteln. Wir alle wissen das – diese ungeheuerliche Verlogenheit: Waffenlieferungen in Krisengebiete, Menschenhandel, darmschädigende Enzyme im Fertigteig der Großbäckereien, krebserregende Handystrahlen, verbrecherische, ja komplett amoralische Massentierhaltung, von Pharmakonzernen verseuchtes Wasser, in dem sich Superkeime bilden, betrügerische Banker, gefälschte Abgasstudien bis hin zur Tochter des Wir-zuerst-und-Arbeitsplätze-zurück-nach-Amerika-Präsidenten, die ihre Modekollektionen von Arbeitssklaven in Billiglohnländern produzieren lässt …

Das Skandalöse hat die Welt mit ihrer Akne überzogen – und wenn etwas aufbricht, der Eiter der Korruption und Gier, der Machtgeilheit und des Nepotismus hervortritt, wandert einfach eine Politiker- oder Aufsichtsrat-Marionette mit einer Millionenabfertigung in die gute Puppenstube der Pension.

Aber nicht nur, dass wir nichts dagegen unternehmen, wir fühlen uns mit unserer achselzuckenden Ignoranz auch noch im Recht. Die Perversion des Kapitalismus besteht darin, dass man für sich selbst kein Mitleid mehr hat – und für andere noch viel weniger. Denn das ist es, was uns der Neoliberalismus unermüdlich einhämmert: Jeder ist selbst schuld an seinem Elend, seiner Sucht, seinen Schulden, seiner gescheiterten Ehe, seinem Krebs.

Und wofür? Wir sind korrumpiert von den Goodies der Marktwirtschaft, von Hotels mit Spa-Bereich, iPads, Hermès-Handtaschen, Pullunder von John Smedley, Taucheruhren von Porsche, Füllfedern von Montblanc, diamantenbesetzten Klobürsten von Cartier, von lauter unnötigem Krempel, der uns vermeintlich zur neuen Aristokratie erhebt, vergessen lässt, dass uns die Jauche bis zum Halse steht.

Fällt Ihnen etwas auf? Die Welt ist merkwürdig unpolitisch geworden, selbst die Politik ist zu einem Dschungelcamp verkommen, in dem es nur noch um Entertainment mit Grauslichkeiten geht. Die großen Themen werden von den immer gleichen Fernsehcomedians, die scheinen in einer Art Paralleluniversum zu leben, diskutiert und von Hinterzimmer-Interessenvertretern entschieden, die vor allem einen im Schilde führen, ihren jeweiligen Global Player: Die Weltbank, Goldmann-Sachs, die EZB, Lockheed Martin, Exxon, Glencore, Nestlé …

Es ist schamlos, wie die Großkonzerne mit Volkswirtschaften, Ländern, Menschen spielen. Erinnern Sie sich an Griechenland, dessen kleptokratisches System fast die Boni einiger Manager gefährdet hätte. Mit welchen Folgen? Gerade weil das Land nicht mehr auftaucht in den Nachrichten, gibt es noch immer keine medizinische Grundversorgung, nicht einmal für Kinder, Pensionen werden nicht ausgezahlt, Schulen bleiben geschlossen, Menschen hungern. Menschliches Elend für ein paar Börsenbrösel. Widerwärtig!

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"Politik, ein Dschungelcamp", UZ vom 14. Juli 2017



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