Unregelmäßigkeiten und ein historisch knappes Ergebnis bei der Bundestagswahl – BSW fordert Neuauszählung

Profiteure als Richter

Nach der Bundestagswahl wurde viel über das knappe Abschneiden des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) geschrieben. Der Ton in den meisten bürgerlichen Medien: arrogant, belehrend, irreführend. UZ hat den langjährigen Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko (BSW) gefragt, wie es jetzt weitergeht. Hier ist seine Antwort.

Bei der vergangenen Bundestagswahl hat es Unregelmäßigkeiten gegeben, die es in diesen Dimensionen bei keiner Bundestagswahl zuvor gegeben hat. Hinzu kommt ein Ergebnis, das so knapp ist wie noch nie. Im festgestellten Endergebnis hat das BSW 4,981 Prozent der Stimmen erreicht. Um die 5-Prozent-Hürde zu knacken, fehlen uns rund 9.500 Stimmen, verteilt auf bundesweit etwa 90.000 Wahllokale. Schon in der Wahlnacht fiel auf, dass Stimmen in einzelnen Wahllokalen nicht richtig zugeordnet waren. Bei uns in Aachen hatte das BSW in einem Wahllokal vermeintlich null Stimmen erhalten, während der Kleinstpartei Bündnis Deutschland 48 Stimmen zugeschrieben worden waren. Man hatte sich offenbar in der Zeile vertan. Das kann passieren.

Das Problem ist, dass der gleiche Fehler bundesweit passiert ist. Korrigiert wurde er jedoch nur nach Gutdünken der jeweiligen Kreiswahlleitungen. Schon nach einer relativ oberflächlichen Überprüfung der statistischen Auffälligkeiten wurden uns 4.277 Stimmen gutgeschrieben. Aber es hat nie eine systematische und flächendeckende Überprüfung gegeben. Viele Bundesländer haben sich schlicht geweigert, noch einmal nachzuschauen.

In Nordrhein-Westfalen haben wir uns Wahllokal für Wahllokal und Gemeinde für Gemeinde angeschaut und statistische Auffälligkeiten gemeldet. Die gibt es immer dann, wenn die erwartbare Stimmenanzahl für eine Partei deutlich vom festgestellten Ergebnis abweicht. In NRW wurden die Fehler in vielen Fällen korrigiert. Die Landeswahlleiterin hatte eine E-Mail geschrieben und alle Wahlkreisleitungen gebeten, auf Unregelmäßigkeiten zu achten – gerade mit Blick auf das BSW. Das hat zu einem Zuwachs von 1.295 Stimmen geführt.

In anderen Bundesländern wurde gar nicht oder nur vereinzelt auf unsere Hinweise reagiert. Auf Wahlkreisebene gibt es in manchen Ländern überhaupt keine Daten. Es ist also fast unmöglich zu verfolgen, wie in den einzelnen Wahllokalen abgestimmt wurde. Vor diesem Hintergrund haben wir vor dem Verfassungsgericht gegen das sogenannte zweistufige Verfahren geklagt und auf eine sofortige Neuauszählung gedrängt. Diese Klage wurde nicht akzeptiert, was keine Entscheidung in der Sache ist, sondern nur ein Festhalten am üblichen Verfahren.

Das zweistufige Verfahren gibt es so nur in Deutschland. Es bedeutet für uns, dass erst nach der Konstituierung des neuen Bundestags eine Wahlprüfungsbeschwerde an den entsprechenden Ausschuss gerichtet werden kann. Dieser Ausschuss wird sich, wenn er sich konstituiert hat, damit befassen und eine Stellungnahme abgeben, die dann vom Parlament abgesegnet wird. Leider ist davon auszugehen, dass unsere Beschwerde in dieser Phase erst einmal abgelehnt wird. Denn da sitzen ja die Profiteure unseres Nichteinzugs als Richter in eigener Sache. Und erst wenn diese Beschwerde abgelehnt ist, können wir eine reguläre Klage einreichen. Das kann sich über viele Monate hinziehen.

Demokratietheoretisch ist dieser ganze Ablauf inakzeptabel. Er widerspricht auch den Vorgaben der Venedig-Kommission für demokratische Wahlen. In anderen Ländern gibt es unabhängige Wahlbehörden, die innerhalb von wenigen Tagen oder Wochen reagieren. So war es beispielsweise in Georgien, wo 15 Prozent der Wahllokale zügig neu ausgezählt wurden, um das Ergebnis zu bestätigen. Dass Beschwerden nicht zeitnah behandelt werden, ist in Deutschland schon lange ein Problem. Es wurde aber nie richtig relevant, weil es noch nie eine so knappe Situation gab.

Allein die bereits bekannten statistischen Auffälligkeiten machen es wahrscheinlich, dass das BSW bei einer Neuauszählung über die 5 Prozent kommt. Und es kommen noch andere Fälle hinzu. Wir haben viele Berichte von Wahllokalen erhalten, in denen die Wahlvorstände davon ausgegangen sind, dass eine nicht abgegebene Erststimme die Wahl ungültig macht. Da wir kaum Direktkandidaten hatten, trifft uns diese Fehlinterpretation überproportional. In Hellersdorf wurden zufällig zwölf Wahllokale neu ausgezählt, die für uns bis dahin unauffällig waren. Trotzdem haben wir da zwei Stimmen mehr bekommen. Hochgerechnet auf 90.000 Wahllokale, kommen da weit mehr als die fehlenden 9.500 Stimmen zusammen. Wenn nur in jedem zehnten Wahllokal eine einzige Stimme fälschlicherweise als ungültig deklariert wurde, würde das reichen, um den Ausgang dieser Wahl massiv zu verändern.

Es gibt noch einen zweiten großen Aspekt. 213.000 Auslandsdeutsche haben sich für die Wahl registriert. Die Zuständigkeit für diese Wählerinnen und Wähler liegt bei den Gemeinden, in denen sie zuletzt gemeldet waren. Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern gibt es nicht die Möglichkeit, in der Botschaft oder in einem Konsulat zu wählen. Es werden also Wahlscheine und Wahlbriefe verschickt. Jede Kommune macht das auf einem anderen Weg, meistens so billig wie möglich über private Postdienstleister. Das Ergebnis ist, dass ein Großteil der Wähler die Unterlagen nicht rechtzeitig bekommen hat. Selbst der deutsche Botschafter in London hat am Samstag vor der Wahl getwittert, dass er keine Wahlunterlagen hat.

Ich habe die Bundesregierung gefragt: Wie viele von den 213.000 registrierten Exildeutschen haben denn gewählt? Die offizielle Antwort: Wir wissen es nicht, das wird nicht erhoben. Es gebe keine Rechtsgrundlage für die Erhebung. Und im Übrigen würde dadurch das Wahlgeheimnis beeinträchtigt – was lächerlich ist.

Nun argumentieren Kommentatoren in einigen Medien, es gebe kein verfassungsmäßiges Recht auf bequeme Wahl. Das ist richtig. Wenn der Staat sagt: Du musst nach Deutschland kommen, auch wenn du auf den Philippinen lebst, dann ist das so. Nur, wenn der Staat sagt: Hallo Bürger, du kannst dich hier registrieren und dann per Brief wählen, dann muss man sich darauf verlassen können. Ansonsten wird das Wahlrecht unterminiert. Das lässt sich auch nicht durch Neuauszählung heilen.

Würde man dieses Problem ernst nehmen, dann müsste es eigentlich eine Neuwahl geben. Deswegen ist das ein zweiter, unabhängiger Komplex.

Nimmt man alle diese Fälle zusammen, dann kann man Sahra Wagenknecht nur beipflichten, wenn sie fordert, dass der Bundestag den Verdacht ausräumen soll, dass er nicht legitim zusammengesetzt ist. Wir sind aber auch nicht naiv. Wir wissen, dass es ein massives Inte­resse daran gibt, das zu verhindern.

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"Profiteure als Richter", UZ vom 4. April 2025



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