Argentinien bekommt einen rechten Präsidenten

Schuss ins Knie

Armando Gardelona, Buenos Aires

„Wir leben auf einem Kontinent, der immer am Rande des Selbstmordes oder des Aufstandes steht.“ Diese Definition des brasilianischen Anthropologen Darcy Ribeiro hilft, die derzeitige Situation in einem Land zu verstehen, wo die Unsicherheit und der Überdruss, die durch jahrelanges, bestenfalls als politisches Ungeschick zu bezeichnendes Verhalten hervorgerufen wurden, einen großen Teil der Argentinier dazu gebracht haben, sich selbst ins Knie zu schießen.

Mit 55,7 Prozent der Stimmen wurde der rechtsextreme Javier Milei am Sonntag in der Stichwahl gegen den bisherigen Wirtschaftsminister Sergio Massa zum Präsidenten Argentiniens gewählt. Im Regierungspalast „La Rosada“ heißt es künftig: weniger Staat, Achtung des Privateigentums und Freihandel. Man schafft ein neoliberales Programm und einen Polizeistaat, der dieses Programm stützt.

Milei dankte seiner designierten Vizepräsidentin Victoria Villarruel, Fan der Völkermörder der letzten Diktatur, ebenso wie Ex-Präsident Mauricio Macri. Es war Macri, der die beiden Präsidentschaftskandidaten seiner eigenen Partei – eine davon war die ehemalige Sicherheitsministerin Bullrich – ausbooten ließ, um den Weg für Milei freizumachen. So hält er die Fäden in der Hand und bleibt als Macht hinter Milei Garant vor der Kapitalistenklasse. Macri beansprucht für sich den Schlüsselbereich Energie, der den Kohlenwasserstoffkomplex mit Vaca Muerta, das zweitwichtigste Frackinggasfeld der Welt, und den Staatskonzern YPF Lithium umfasst, dessen Privatisierung Milei vorantreiben will.

Aber wer ist Milei? Er ist ein Wirtschaftswissenschaftler, der die „Österreichische Grenznutzenschule“ und die neoliberale Politik von Milton Friedman vertritt und der bis vor vier Jahren auf der Straße gehen konnte, ohne dass ihn jemand erkannte, aber seither als TV-Moderator populär geworden ist.

Geht es nach ihm, wird es eine Aufhebung der Gesetze zur Unterbrechung der Schwangerschaft und der gleichberechtigten Ehe, die Schließung der Gedenkstätten, die sich in ehemaligen geheimen Diktaturhaftanstalten befinden, einen freien Verkauf von Waffen und den Abbruch der Beziehungen zu den beiden wichtigsten Handelspartnern China und Brasilien geben, „weil ihre Präsidenten Kommunisten sind“.

Er leugnet den Klimawandel, will die Privatisierung des Gesundheits-, Bildungs- und des Rentensystems und schlug vor, die Fußballvereine zu privatisieren. Er zögerte nicht zu behaupten, dass die soziale Gerechtigkeit ein Irrweg sei, dass er den argentinischen Peso dollarisieren und die Zentralbank zerstören würde – und dass er das auch mit Kommunisten, Sozialisten und Mitgliedern anderer Parteien von Mitte-Rechts bis Mitte-Links tun will. Seine wiederholten expliziten Gewalttaten sowie einige messianische Extravaganzen veranlassten sogar Mitte-Rechts-Gruppen, sich öffentlich für den Peronisten Sergio Massa auszusprechen.

Doch Milei erhielt zehn Prozentpunkte mehr als sein Konkurrent. Zwar wurden seine Kandidatur und sein Wahlkampf Hand in Hand mit Steve Bannon und BlackRock und den drei größten Medienkonglomeraten unterstützt. Aber unter denen, die für ihn gestimmt haben, sind genau diejenigen, die seit mindestens zwölf Jahren brutal attackiert sind – durch Inflation in Verbindung mit Reallohnrückgang.

Das war die Zeit der Präsidentschaften von Cristina Fernández, Macri und Alberto Fernández. Es stimmt, dass wir in den letzten drei Jahren die Pandemie und eine Dürre, die Verluste in Höhe von zwanzig Milliarden Dollar verursachte, überstehen mussten. Aber es ist auch wahr, dass alle diese Regierungen wenig Empathie für einen großen Teil der Gesellschaft gezeigt haben, der jetzt für Milei stimmt – insbesondere ein Peronismus, der mit seinem polyklassistischen Ideal immer gewusst hatte, wie man die vom Kapitalismus Ausgeschlossenen beschützt, aber nun die Karten auf einen Wirtschaftsminister einer Regierung setzte, die für eine Inflation von 150 Prozent und 40 Prozent der Argentinier in Armut steht.

Es ist noch unklar, ob es einen koordinierten Übergang mit der derzeitigen Regierung geben wird oder ob Präsident Fernández gezwungen wird, mit dem von Milei vorgesehenen Anpassungsschock zu beginnen, der nach seinen Ankündigungen mit einer Kürzung von fünfzehn Punkten des BIP beginnen würde. Derzeit belaufen sich die Ausgaben auf 24 Punkte des BIP, so dass bei einer Kürzung um fünfzehn Punkte nur noch neun übrigbleiben würden, was für den Staat nicht ausreichen würde, um Dinge wie die Bezahlung von Lehrern, Polizisten, Bediensteten des Gesundheitssystems und Rentnern zu bewältigen. Die Renten machen 60 Prozent der Gesamtausgaben aus, also fünfzehn Punkte des BIP. Darum geht es also: Um eine wahrhaft kriminelle Wende, die die Ultrarechte mit ihrem Sieg am Sonntag bereits eingeleitet hat. Und mit der Dollarisierung – einhergehend mit einem Zyklus von Hyperinflation als sozialem Disziplinierungsinstrument, Abwertung, Verschuldung, Kapitalflucht und Plünderung des Nationaleigentums – wird Milei letztlich die Leute töten, die ihn soeben ins Amt gewählt haben.

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"Schuss ins Knie", UZ vom 24. November 2023



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