Wogegen putschten am 11. September 1973 in Chile Pinochet und seine Mordkumpanen?

Sieg mit einem klaren Programm

5. November 1970: Vor 100.000 begeisterten Chileninnen und Chilenen hält gleich nach der offiziellen Amtseinführung der neugewählte Präsident Salvador Allende die Siegesansprache und betont: „Es ist ein Sieg, der mit einem sehr präzisen und klaren Programm erkämpft wurde, mit einem großen Nationalbewusstsein und einer ausgesprochen antiimperialistischen Einstellung.“

Wie ein Prolog heutiger Kämpfe gegen die NATO-Bemühungen, die Unterdrückung der ihnen nicht gehorchenden Welt auf ewig zu zementieren, klingt es, wenn Allende fortfährt: „Die Wahrheit ist – und das wissen wir alle –, dass Rückständigkeit, Unwissenheit und Hunger unseres Volkes und aller Völker der dritten Welt einigen wenigen Privilegierten Gewinne bringen. Aber jetzt ist endlich der Tag gekommen, um Schluss zu sagen, Schluss mit der wirtschaftlichen Ausbeutung: Schluss mit der sozialen Ungerechtigkeit! Schluss mit der politischen Unterdrückung!“

Leben und Lage vor dem Sieg Allendes

Der Sieg von Salvador Allende war der Abschluss eines langen Kampfes, an deren Beginn Allende 1952 lediglich 57.000 Stimmen für seinen Kurs auf ein neues Chile errungen hatte. Wie bitter nötig eine neue Politik war, machen einige Zahlen deutlich: Unter den Vorgängerregierungen Jorge Alessandri (Nationalpartei) und Eduardo Frei (Christdemokraten) waren die Lebenshaltungskosten innerhalb eines Jahrzehnts um 1.000 Prozent gestiegen. Die Altersrenten waren durch diese Inflation praktisch vernichtet. Allein in der Hauptstadt Santiago lebten 600.000 Menschen in Elendsquartieren. Zwei Drittel aller Bauernhäuser besaßen keinen festen Fußboden, nur 10 Prozent hatten Strom. 1,5 Millionen Kinder waren unterernährt, 600.000 aufgrund dauerhafter Mangelernährung geistig zurückgeblieben. Die Kindersterblichkeit auf den Dörfern lag bei 30 Prozent. 15 Prozent aller Chilenen über 15 Jahren waren Analphabeten.

Auf der anderen Seite und auf Kosten Chiles häufte sich vor allem in den USA der Reichtum: 80 Prozent des Acker- und Weidelandes befanden sich in den Händen von 4 Prozent der Bevölkerung, 2 Prozent der chilenischen Familien verfügten über 46 Prozent des Geldeinkommens. Die Hälfte des Aktienkapitals der 30 größten Industrieunternehmen Chiles befanden sich im Besitz ausländischer Konzerne. Der Bergbau, aus dem rund 85 Prozent aller Exporterlöse Chiles stammten, war fast vollständig in der Hand von US-Konzernen. Allein diese Konzerne erwirtschafteten jeden Tag 1,5 Millionen Dollar Profit aus ihren Beteiligungen.

Der Protest gegen die Unerträglichkeit der Lage der Arbeiter, der Landbevölkerung, der Kinder und der Alten und die schreiende soziale Spaltung des Landes führten zur Herausbildung mehrerer sozialistisch orientierter Organisationen, die aber gegenüber den herrschenden konservativen und reaktionären Kräften durch ihre Zersplitterung erfolglos blieben. Das begann sich Ende der 1960er Jahre zu ändern.

Das Programm der Unidad Popular

Am 17. Dezember 1969 unterzeichneten sechs politische Parteien ein gemeinsames Programm und beschlossen, bei künftigen Wahlen unter dem Namen „Unidad Popular“ (UP) – Geeintes Volk – anzutreten.
Diese sechs Parteien waren:

  • Sozialistische Partei
  • Kommunistische Partei
  • Radikale Partei
  • Bewegung der Einheitlichen Volksaktion (MAPU)
  • Unabhängige Volkspartei und
  • Sozialdemokratische Partei.

Im Jahre 1971 schloss sich auch die „Christliche Linke“ (IC) der Unidad Popular an.
Das Programm der UP, mit dem sie 1970 in den Wahlkampf zog, war, wie ihr Präsidentschaftskandidat Allende formulierte, „präzise und klar“.

Das „zentrale Ziel der Politik der geeinten Volkskräfte“, wird darin erklärt, ist es, „die gegenwärtige ökonomische Struktur zu verändern und die Macht des in- und ausländischen Monopolkapitals und der Großgrundbesitzer zu brechen“. Als „erste Maßnahme“, so wird angekündigt, „werden diejenigen grundlegenden Reichtümer nationalisiert werden, die sich – wie der große Kupfer-, Eisen- und Salpeterbergbau und andere Industrien – in der Hand des ausländischen Kapitals und der inländischen Monopole befinden“.

Exakt werden in dem Programm die Bereiche beschrieben, die von der Nationalisierung erfasst werden sollten – neben den erwähnten Rohstoffindustrien auch Privatbanken, Versicherungsgesellschaften, der Außenhandel und die Rüstungsmonopole. Enteignet werden sollten auch die Großgrundbesitzer und alles Bodeneigentum, das der Nutzung entzogen war, also der Spekulation diente – die „enteigneten Ländereien werden vorzugsweise in genossenschaftlichen Eigentumsformen organisiert. Die Bauern werden Besitzrecht auf Haus und Garten haben.“

Die Arbeitslosigkeit sollte schnell beseitigt, die schreiende Wohnungsnot bekämpft werden – „Ziel der Wohnungspolitik der Volksregierung wird es sein, dass jede Familie eine eigene Wohnung besitzt“, deren „Miete in der Regel 10 Prozent des Familieneinkommens nicht überschreitet“.

Ein besonderes Augenmerk richtete die Unidad Popular auf die Kinder des Landes: Als „Erstmaßnahme“ wurde angekündigt, Schulbücher und Schulmaterialien für alle Kinder der Grundschulen kostenlos auszugeben und allen Kinder täglich einen halben Liter Milch kostenlos zur Verfügung zu stellen sowie das System der Kinderkrippen und -gärten „rasch“ zu erweitern.

Und schließlich sprachen Allende und seine Volkseinheit auch hinsichtlich der internationalen Ausrichtung Klartext: „Auf der Grundlage der Achtung des Selbstbestimmungsrechtes und der Interessen des chilenischen Volkes werden Beziehungen zu allen Ländern der Erde aufgenommen werden, unabhängig von ihrer ideologischen und politischen Haltung. Die freundschaftlichen Beziehungen und der Handel mit den sozialistischen Ländern werden sich verstärkt entwickeln.“

Versprochen und gehalten – die drei Jahre der UP-Regierung

Die Einigkeit der vorher zersplitterten Linkskräfte in Kombination mit ihrer klar sozialistischen Ausrichtung, ihrer antimonopolistischen Orientierung und ihrem Bekenntnis zum Bündnis mit den sozialistischen Ländern führte schließlich am 4. September 1970 zum Sieg Allendes. Mit 36,3 Prozent wurde er vor dem Rechtskandidaten Allessandri (35 Prozent) und dem Christdemokraten Tomic (28 Prozent) zum ersten sozialistischen Präsidenten des Landes gewählt. Trotz heftiger Gegenwehr der reaktionärsten Kräfte des Landes wurde er am 22. Oktober 1970 im chilenischen Kongress mit den Stimmen der Christdemokraten zum Präsidenten proklamiert. Entsprechend dem Kräfteverhältnis innerhalb des Bündnisses gehörten vier Minister der Sozialistischen Partei an, drei der Kommunistischen Partei und drei der Radikalen Partei.

Die Regierung der Volkseinheit machte sich sofort an die Erfüllung ihrer Wahlversprechungen – die Kinder bekamen ihre Milch und ihre kostenlosen Schulbücher. Die Konzerne wurden entschädigungslos enteignet, das Kupfer und andere Bodenschätzen dem Zugriff US-amerikanischer Konzerne entzogen. Trotz des Schäumens der Herren in Bonn erkannte die neue Regierung die DDR völkerrechtlich an. Die chilenischen Gruppen „Quilapayun“ und „Inti-Illimani“ wurden im besseren Deutschland begeistert gefeiert. Fidel Castro verbrachte mit Allende in Chile lange Tage und Abende, Allende selbst bereiste Kiel und Moskau und wurde ein weltweiter Hoffnungsträger für einen Ausbruch aus der Knechtschaft der internationalen Konzerne.

Wie in einem vormals stickigen Raum, bei dem die Fenster weit geöffnet werden, herrschte Aufbruchstimmung im Land der Anden. Das schlug sich bei nachfolgenden Wahlen nieder. Am 5. April 1971 errangen die Kandidatinnen und Kandidaten der UP bei den Kommunalwahlen knapp 51 Prozent der Stimmen. Auch im vorher eher skeptischen akademischen Bereich wuchs die Zustimmung zur neuen Politik: Bei den Wahlen zu den Vertretungen der Universitäten ging die UP mit fast 47 Prozent als eindeutig stärkste Kraft hervor. Noch deutlicher war die Zustimmung innerhalb der Arbeiterklasse: 1972 bekamen bei den Wahlen zu den Führungsgremien der mit dem deutschen DGB vergleichbaren einheitlichen Gewerkschaftsorganisation CUT Vertreter der Unidad Popular fast 70 Prozent der abgegebenen Stimmen.

Die Reaktion tobt

Immer verbitterter wütete die nationale und internationale Reaktion gegen Allendes Regierung. Im Vorfeld der Parlamentswahlen am 4. März 1973 organisierte sie Mordserien und Boykottaktionen. Es nützte alles nichts: Nach dreijähriger Regierungszeit gewann die UP 43,4 Prozent der Stimmen – sieben Prozent mehr als bei den Wahlen 1970. Sie erhöhte die Zahl ihrer Abgeordneten von 57 auf 63.

Luis Corvalán, Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chiles, kommentierte dieses Ergebnis auf der Tagung des Zentralkomitees seiner Partei im März 1973 so:

„Die reaktionären Kräfte haben eine Niederlage erlitten. Ihre Ziele (Erreichung der Zweidrittelmehrheit im Parlament, Reduzieren der Stimmen der Unidad Popular auf einen Prozentsatz, der unter den letzten Präsidentschaftswahlen liegt) wurden vereitelt. (…) Die Wahlergebnisse haben einmal mehr gezeigt, dass die Kommunistische und die Sozialistische Partei die Grundpfeiler der Volksbewegung sind und dass das Einvernehmen zwischen diesen beiden immer die Schlüsselfrage für die Fortführung der chilenischen Revolution bleiben wird.“

Im Frühjahr 1973 wurde nicht nur in den Reihenvierteln Santiagos, sondern auch in Washington zunehmend klar, dass die chilenische Revolution mit den üblichen Mitteln nicht mehr zu bremsen sein wird. Es war ihnen weder gelungen, die Kommunistische und die Sozialistische Partei als die beiden „Grundpfeiler der Volksbewegung“, wie es Corvalán formulierte, auseinanderzudividieren, noch war es ihnen gelungen, eine rechte Massenbewegung etwa nach dem Vorbild der faschistischen Bewegungen in den 1920er und 1930er Jahren in Italien und Deutschland gegen die vereinigte Linke aufzubauen. Auch die Mord- und Boykottserien hatten nicht zum gewünschten Erfolg der Ermüdung der Bevölkerung angesichts des schweren Weges zur Befreiung von der in- und ausländischen Knechtschaft geführt. Nicht also, weil die Regierung Allendes so schlecht war, sondern im Gegenteil, weil sie zunehmend erfolgreich war, entschlossen sich diese Kräfte im Sommer 1973, nunmehr die Notbremse zu ziehen und die chilenische Revolution im Blut zu ersticken.

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"Sieg mit einem klaren Programm", UZ vom 11. August 2023



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