Bildband dokumentiert deutsche Erinnerungsorte an Chile

Zeugnisse der Solidarität

Mit der Erinnerungskultur ist es in Deutschland so eine Sache. Erinnerung an Fortschritt wird gerne getilgt, Namen wie Juri Gagarin dürfen nicht länger Schulen zieren, Marx, Engels und Lenin verschwinden in vielen Städten als Namensgeber für Straßen, Clara Zetkin versucht man in Tübingen Dreck am Stecken nachzuweisen, um ihren Namen aus dem Straßenbild zu tilgen. Die Erinnerung an die deutsche Schuld wird kleingehalten, sowjetische Ehrenmale und Denkmäler werden vernachlässigt, in der Hoffnung, dass sie bald vergessen sind. Carlos Gomes hat sich zum 50. Jahrestag des Putsches auf den Weg gemacht, Erinnerungen an das fortschrittliche Chile zu finden und aus seinen Funden in Ost und West ein Buch zusammengestellt, das nun im Verlag 8. Mai erschienen ist. UZ zeigt hier einige der Bilder des Buches und dokumentiert – beides mit freundlicher Genehmigung des Verlags – das Vorwort.

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Eine chilenische Mutter mit Wunden im Gesicht hält ihren von der Junta ermordeten Sohn – Denkmal in der Grünanlage der Franziskaner-Klosterruine in Berlin. (Foto: Carlos Gomes / © Verlag 8. Mai GmbH, Berlin 2023)

Ich erinnere mich daran, in meiner Kindheit im Elternhaus die Lieder von Víctor Jara sowie von den exilchilenischen Musikgruppen „Quilapayún“ und „Inti-Illimani“ gehört zu haben. Auch wenn mir ihr tiefer Sinn erst einmal entging, bezauberten mich die Melodien, der leidenschaftliche Gesang und die Virtuosität der Gitarren- und Flötenspieler, die die Musikanlage wiedergab.

Davon abgesehen, dass ich weiterhin revolutionäre chilenische Musik hörte, hatte ich mein Leben lang keinen besonderen Bezug zu Kultur und Geschichte des schmalen Andenstaats. Bis ich vor wenigen Jahren im Rahmen eines Forschungsprojekts über deutsche Lenin-Monumente intensiv zur Denkmallandschaft der DDR recherchierte und zufällig auf einige der chilebezogenen Gedenkstätten des Allende-Viertels in Berlin-Köpenick stieß: die Büste Salvador Allendes, die Gedichttafel zu Ehren Pablo Nerudas und die Statue vom musizierenden Víctor Jara.

Vor dem Standbild Jaras stehend, hielt ich inne und hörte in meinem Kopf die Akkorde meiner Kindheits- und Jugendlieder. Die Zusammenhänge waren für mich allerdings noch nicht ganz klar. Ich fragte mich, warum im Pausenhof einer Köpenicker Schule der chilenische Musiker stand, den ich seit meiner Kindheit auf den Schallplattenhüllen meiner Eltern gesehen hatte. Und mich wunderte, dass in diesem Viertel so viele Straßen, Denkmäler, sogar das große Einkaufszentrum und eine Imbissbude chilenische Motive beziehungsweise Namen trugen. Ich beschloss, der Sache nachzugehen.

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Heute leider kaum noch erhaltenes Wandbild in Frankfurt am Main (Foto: Carlos Gomes / © Verlag 8. Mai GmbH, Berlin 2023)

In meiner ersten Internetsuche fand ich reichliche Referenzen zu Denkmälern, Institutionen und Straßen, die in verschiedenen Städten der DDR die Märtyrer des chilenischen Putsches vom 11. September 1973 geehrt hatten. Ich traf auch auf Informationen zu Straßen und Einrichtungen in der BRD sowie zu den Wandbildern, die im Rahmen der Chile-Solidaritätswelle in beiden deutschen Staaten entstanden waren.

Das Thema war fesselnd und ich befasste mich tiefer mit der Aufbruchstimmung im Chile der 1960er Jahre, dem Wahlsieg Allendes 1970, der brutalen Machtergreifung durch das Militär 1973 und dem darauffolgenden Exil tausender Chileninnen und Chilenen. Allmählich schlossen sich einige Kreise: Ich begann die Anspielungen und Botschaften der Kampflieder genauer zu verstehen. Und ich begriff die enorme Bedeutung der Chile-Solidarität auf beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze und somit den Ursprung der Statuen, Büsten, Skulpturen, Gedenktafeln und Wandbilder zu Ehren der Opfer des Staatsstreichs.

Die Forschung zu den Chile-Denkmälern in Deutschland entwickelte sich zu einem größeren Projekt, das mich quer durch das Land reisen ließ, in Kontakt zu Exilchilenen sowie deutschen Aktivisten der Solidaritätsbewegung brachte und viele Nachmittage in Bibliotheken und Archiven kostete. Die Ergebnisse meiner Recherche wurden zunächst auf der Webseite www.chile1973indeutschland.org veröffentlicht.

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(Foto: Carlos Gomes / © Verlag 8. Mai GmbH, Berlin 2023)

Zum 50. Jahrestag des Putsches erscheint nun dieses Buch. Es lädt Interessierte zu einer Zeitreise durch die deutsch-chilenische Geschichte ab den späten 1960er Jahren ein: von der Beziehung der sozialistischen Regierung Allendes zu BRD und DDR über die Unterdrückung der progressiven Kräfte durch die Militärjunta und das Exil in beiden deutschen Staaten, bis zum aktiven Widerstand gegen die Militärjunta während der 17-jährigen Diktatur Augusto Pinochets. Der Leitfaden dieser Reise sind die in DDR und BRD entstandenen Denkmäler und Wandbilder, in denen sich das Leid, der Kampfgeist und die Hoffnung der chilenischen Bevölkerung widerspiegeln.

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Carlos Gomes: Chile 1973
Denkmäler und Wandbilder in DDR und BRD
Verlag 8. Mai, 118 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen, 19,90 Euro

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"Zeugnisse der Solidarität", UZ vom 1. September 2023



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