Zum Lohnabschluss in der Stahlindustrie

Verzicht rettet nicht

Je mehr Technik und wissenschaftliches Know-how in einem Produkt stecken, desto geringer fallen für die Erzeugung dieses Produkts die Lohnkosten ins Gewicht. Die sogenannten Lohnstückkosten sind relativ hoch beispielsweise im schlecht bezahlten Haarschneidehandwerk. Sie sind relativ geringer in hochtechnisierten Bereichen wie der Stahlindustrie. In dieser Branche, in der jetzt die Löhne ab Januar 2026 mit einer Laufzeit von 15 Monaten um magere 1,5 Prozent wachsen sollen, fallen sie für die Frage der Wettbewerbsfähigkeit nicht entscheidend ins Gewicht. Völlig zu Recht hatte die IG Metall, die nun auf ihrer Homepage für diesen Abschluss wirbt, vorher darauf hingewiesen, dass die „Lohnstückkosten“ gegenüber dem Jahr 2000 sogar gesunken sind.

Die Erhöhung um nominal 1,5 Prozent für 15 Monate bedeutet bei einer offiziellen Inflationsrate von jetzt 2,4 Prozent einen kräftigen Reallohnverlust. Er wird die Stahlarbeiterschaft noch empfindlicher treffen, weil sie und ihre Familien einen höheren Anteil als ihre Bosse für Lebensmittel aufwenden müssen. Dort liegt die Inflationsrate eher bei 5 Prozent jährlich, Tendenz steigend.

Die Spitze der IG Metall argumentiert, es wäre in dieser Tarifrunde nicht nur um Lohnerhöhungen, sondern auch um Beschäftigungssicherung gegangen. Aber die Kollegen von VW, Bosch und anderswo, die in der Vergangenheit auf Lohnerhöhungen gegen das vage Versprechen verzichtet hatten, dafür seien ihre Arbeitsplätze sicher, wissen: Diesen Zusammenhang zwischen Lohnverzicht und Arbeitsplatzsicherung gibt es nicht.

Jeder gebildete Ökonom – also jemand, der auch „Das Kapital“ von Karl Marx gelesen und verstanden hat – kennt den Begriff der „organischen Zusammensetzung“, der den oben skizzierten Zusammenhang zwischen Grad der Technisierung industrieller Prozesse und dem Anteil der Lohnkosten an der Preisbildung auf den Begriff bringt. Es sind nicht die Lohnkosten, die gegenwärtig die Zukunft der Stahlindustrie in Deutschland gefährden. Es ist die Abschottung von den großen Märkten infolge der feindseligen Haltung gegenüber Russland und China. Es liegt auf der Hand: Wer für den 3-Milliarden-Menschen-Markt Russlands, Chinas und Indiens produziert, hat andere Skaleneffekte als jemand, der sich aus politischer Borniertheit einigeln will in den 450-Millionen-Menschen-Markt der ökonomisch abrutschenden EU. Wer in solchen Zeiten Tarifverhandlungen nicht politisch führt, verliert sie.

Verbunden mit dem üblichen Gemaule, der Abschluss „strapaziert die Leistungsfähigkeit unserer Industrie erheblich“, zeigte sich der Vorsitzende des „Arbeitgeberverbandes Stahl“, Reiner Blaschek, zufrieden: Es sei gelungen, „einen Kompromiss zu finden, der den Unternehmen zumindest eine gewisse Planungssicherheit für das Gesamtjahr 2026 verschafft“. Diese Planungssicherheit haben die Kollegen in der Stahlindustrie und ihre Familien nur insofern, als dass sie jetzt schon wissen, dass sie ihre Gürtel im kommenden Jahr enger schnallen müssen.

Nadine Boguslawski, im IG-Metall-Vorstand für Tarifpolitik verantwortlich, erklärte: „Wir haben unsere Arbeit bestmöglich gemacht.“ Die Zukunft der Stahlindustrie liege jetzt „in den Händen guter Unternehmensführungen und strategischer Politik“. Das ist falsch. Die Zukunft der Lohnabhängigen in Deutschland und ihrer Gewerkschaften liegt in einer Wende zu mehr Klassenbewusstsein, in kämpferischer statt devoter Haltung und einer politischen Massenbewegung, um die arbeitsplatzmörderische Wagenburgmentalität der deutschen Politik zu durchbrechen.

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"Verzicht rettet nicht", UZ vom 10. Oktober 2025



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