Die IG Metall will in der Stahlindustrie Arbeitszeitverkürzung durchsetzen – bei vollem Lohnausgleich

Eine Frage der Zeit

Nach elf Stunden Arbeit, Staub und Lärm und dem Heimweg bleibt kaum noch Zeit für Hausarbeit und Schlaf, geschweige denn für die Kinder. Wir leben für den Sonntag, wenn uns ein paar freie Stunden bleiben. Wir wollen eine Stunde mehr für uns. Eine Stunde für unsere Familie. Eine Stunde fürs Leben.“ Hätten die Lohnabhängigen auf die Barmherzigkeit der Herrschenden gehofft, statt auf die eigene Stärke zu vertrauen, wären die Arbeitszeiten heute wahrscheinlich immer noch so lang und unerträglich, wie sie eine Textilarbeiterin im sächsischen Crimmitschau am Ende des 19. Jahrhunderts beschreibt.

Der Kampf um die Zeit, in der man seine Arbeitskraft fremdbestimmt an einen Kapitalisten verkauft, zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte der Gewerkschaften. Oft waren diese Auseinandersetzungen von besonderer Härte und langer Dauer geprägt. Im Sommer 1903 streikten sächsische Textilarbeiterinnen 22 Wochen lang erfolglos für die Reduzierung ihrer täglichen Arbeitszeit auf zehn Stunden. Im November 1918 erkämpften revolutionäre Arbeiter und Soldaten – zumindest vorläufig – den 8-Stunden-Tag in Deutschland. „Samstags gehört Vati mir“ – unter dieser Losung setzten die DGB-Gewerkschaften in der jungen Bundesrepublik, in der 48 Arbeitsstunden und mehr in der Woche wieder an der Tagesordnung waren, in zahlreichen Branchen den arbeitsfreien Samstag durch.

HaymarketRiot Harpers - Eine Frage der Zeit - Arbeitszeitverkürzung, IG Metall, Tarifrunde Stahlindustrie, Vier-Tage-Woche - Hintergrund
Für den 1. Mai 1886 hatte die US-amerikanische Arbeiterbewegung zu einem Generalstreik zur Durchsetzung des Achtstundentags aufgerufen. In Chicago wurde der Streikaufruf massenhaft befolgt. In den kommenden Tagen kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen mit der Polizei. Am 4. Mai eskalierte die Situation. Die Polizei griff die friedlichen Arbeiter an, eine Bombe wurde gezündet, die auch mehrere Polizisten tötete. Im Sommer 1899 beschloss die „Zweite Internationale“, den 1. Mai fortan als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ zu begehen. (Foto: public domain)

„Mehr Zeit zum Leben, Lieben Lachen“ wird den Beschäftigten nicht geschenkt. Dies belegt der fast siebenwöchige Arbeitskampf der IG Metall für die 35-Stunden-Woche. Im Juni 1984 legten 57.500 Beschäftigte in 23 Betrieben in der westdeutschen Metallindustrie hierfür die Arbeit nieder. Die Kapitalseite reagiert mit Aussperrung. Zunächst waren 155.000 Kolleginnen und Kollegen in den umkämpften Tarifgebieten Nordwürttemberg/Nordbaden und Hessen betroffen. Dann folgte bundesweit die „kalte Aussperrung“. Bald standen eine halbe Million Ausgesperrte vor den Toren – zehnmal so viele wie Streikende. Dennoch konnte die IG Metall gegen alle Widerstände aus den Konzern­etagen und der Politik bis 1995 schrittweise die 35-Stunden-Woche durchsetzen.

In der nun anstehenden Tarifrunde in der Stahlindustrie hat die IG Metall die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung erneut auf die Tagesordnung gesetzt. Ziel der größten DGB-Gewerkschaft ist es, durch eine Senkung der Wochenarbeitszeit von aktuell 35 auf 32 Stunden die Vier-Tage-Woche branchenweit einzuführen.

Bereits im August 2020 hatte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann für die Metall- und Elektroindustrie eine Vier-Tage-Woche ins Spiel gebracht. Damals als Option für Betriebe, einen massiven Stellenabbau in Folge von Transformationsprozessen in der Automobil- und Zulieferindustrie zu verhindern. Nachdem bereits in einzelnen Unternehmen wie Daimler, ZF oder Bosch kürzere Arbeitszeiten auf betrieblicher Ebene vereinbart worden waren, sollte „künftig allen Betrieben der Metall- und Elektroindustrie – mit einem gewissen Lohnausgleich für die Beschäftigten – dieser Weg offenstehen“, so der IG-Metall-Chef vor zwei Jahren.

35stunden - Eine Frage der Zeit - Arbeitszeitverkürzung, IG Metall, Tarifrunde Stahlindustrie, Vier-Tage-Woche - Hintergrund

Die Antwort der Gegenseite war die gleiche, die man schon aus den Auseinandersetzungen der Vergangenheit kennt und auch heute zu hören bekommt: Man brauche, um die wirtschaftliche Krise zu überwinden, mehr Arbeit und nicht weniger. Allerdings unterschlägt diese neoliberale Argumentation, dass Arbeitszeitreduzierung bereits in der Krise 2008/2009 in einer Reihe von Betrieben praktiziert wurde. Denn auch die Unternehmer haben unter bestimmten Bedingungen Interesse daran, Arbeitszeiten zu reduzieren statt zu entlassen. So sichern sie sich Fachkräfte und man spart Kosten für Sozialpläne.

Auch in der anstehenden Tarifrunde in der Stahlindustrie spielt – neben der Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Beschäftigten – der Erhalt industrieller Arbeitsplätze eine nicht unbedeutende Rolle. Diesmal – auch vor dem Hintergrund der stark steigenden Lebenskosten infolge der Inflation – will die Gewerkschaft die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich und verbindlich für eine ganze Branche durchsetzen.

Während diese Tarifforderung bei den Kolleginnen und Kollegen auf breite Zustimmung stößt, hat der „Arbeitgeberverband Stahl“ bereits erbitterten Widerstand angekündigt. Die Arbeitszeit weiter zu verkürzen, komme aus Arbeitgebersicht nicht in Frage. Man hätte bereits jetzt mit hohen Energiekostensteigerungen und den Kosten für die Transformation der Branche zu kämpfen, so ein Verbandsfunktionär.

Verschwiegen wird hier jedoch, dass die Vier-Tage-Woche längst in einer Reihe von Betrieben praktiziert wird. Bereits 1993 wurde diese von der IG Metall erstmals bei Volkswagen erkämpft. 30.000 Jobs konnten so in der Krise gerettet werden.

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Arbeitszeitverkürzung statt Stellenabbau: Werftarbeiter der Howaldtswerke Deutsche Werft AG demonstrieren gegen ein Ende des Handelsschiffbaus in Kiel und für die Einführung der 35-Stunden-Woche (2. April 1984). (Foto: Gesellschaft für Kieler Stadtgeschichte / Wikimedia / CC BY-SA 3.0 DE)

Inzwischen erlauben zahlreiche Tarifverträge die Absenkung der Arbeitszeit für Betriebe sowie Wahlarbeitszeiten für Beschäftigte. Dies gilt auch für die Eisen- und Stahlindustrie. Bei ThyssenKrupp können die Beschäftigten ihre Wochenarbeitszeit zwischen 33 und 35 Stunden selbst wählen. Bei Arcelor Mittal ist eine Absenkung der Arbeitszeit auf 32 Stunden möglich. Allerdings zahlt keines der beiden Unternehmen einen Lohnausgleich für die individuell gekürzten Arbeitszeiten.

Angesichts dieser längst gelebten betrieblichen Praxis stellt sich die Frage, ob der „Arbeitgeberverband Stahl“ an seiner strikten Verweigerungshaltung tatsächlich festhält. Oder wird es in den anstehenden Tarifverhandlungen nicht mehr um die Frage gehen, ob die Arbeitszeitverkürzung kommt, sondern nur noch darum, wie sie konkret ausgestaltet wird? Wird es lediglich eine temporäre Arbeitszeitreduzierung geben, die dann wieder angehoben wird, sobald das Kapital wieder mehr menschliche Arbeitskraft benötigt? Oder gelingt es der IG Metall, tatsächlich dauerhaft mehr freie Zeit und selbstbestimmtes Leben gemeinsam mit den Kolleginnen und Kollegen zu erkämpfen? Steht am Ende der Auseinandersetzung eine Arbeitszeitreduzierung bei vollem Lohn- und Personalausgleich? Wird der Produktivitätszuwachs infolge des technischen Fortschritts im vollen Umfang für Beschäftigungssicherung genutzt? Hierüber werden die Kräfteverhältnisse zwischen Kapital und Arbeit in der kommenden Auseinandersetzung entscheiden.

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"Eine Frage der Zeit", UZ vom 28. April 2023



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