Die Freien Gewerkschaften 1919 bis 1933

Zwischen Anpassung und Zerschlagung

Kolleginnen und Kollegen, (…) Am Tage des 1. Mai erglühte stets erneut das Bekenntnis der von leidenschaftlichem Kulturwillen beseelten deutschen Arbeiter, den werktätigen Menschen einem dumpfen Arbeiterdasein zu entreißen und ihn als freie, selbstbewusste Persönlichkeit in die Gemeinschaft des Volkes einzuordnen. (…) Wir begrüßen es, dass die Reichsregierung diesen unseren Tag zum gesetzlichen Feiertag der nationalen Arbeit, zum deutschen Volksfeiertag erklärt hat. (…) Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewusst demonstrieren, soll ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden.“ So hieß es im Aufruf des 1919 entstandenen Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) zum 1. Mai 1933, veröffentlicht in der „Gewerkschafts-Zeitung“ vom 22. April.

Mit der Machtübertragung an die deutschen Faschisten wurde die Integration der Arbeiterklasse in die faschistische Volksgemeinschaft zur offen vertretenen Position des ADGB. Die Übernahme von Versatzstücken faschistischer Ideologie und das Kuschen vor den Nazis nutzten indes nicht mehr: Am 2. Mai 1933 stürmte die SA die Gewerkschaftshäuser, Funktionäre des ADGB wurden verhaftet, Gewerkschaftsvermögen wurde enteignet und in die volksgemeinschaftliche Deutsche Arbeitsfront (DAF) überführt. Was war der Weg dahin? Vor allem: wie kam es zur massiven Fehleinschätzung des Faschismus durch die Freien Gewerkschaften?

Entwicklung des Kapitalismus

Mit der Entwicklung des Kapitalismus bilden sich gesetzmäßig höher und niedriger gestellte Arbeitergruppen schlicht danach, wie hoch der Wert der jeweiligen Ware Arbeitskraft ist. Vor allem dort, wo die Produktivkraftentwicklung stattfindet, bedarf es solcher besonderer technischer und organisatorischer Fähigkeiten der Arbeiter, dass Erfahrung und Ausbildung in höherem Maße nötig sind. Bereits Karl Marx erkannte diese „Stehkragenproletarier“ als Notwendigkeit der kapitalistischen Produktionsweise und wies nach, dass auch sie zur Arbeiterklasse gehören. Er stellte den frühen Trade Unions und der revolutionären Sozialdemokratie die Aufgabe, auch diese Teile der Klasse zu gewinnen. Als besonderes Phänomen Britanniens stellte er fest, dass aufgrund ihrer Bestechung mittels eines Teils der Kolonialprofite diese Arbeiterschichten zu einer dauerhafteren und stabileren sozialen Gruppe werden konnten.

1710 725px Die freie Gewerkschaft offizielles Mitteilungsblatt des ADGB in Hamburg - Zwischen Anpassung und Zerschlagung - 2. Mai 1933, ADGB, Faschismus, Freie Gewerkschaften, Gewerkschaften, SA, Zerschlagung der Gewerkschaften - Theorie & Geschichte
„Die freie Gewerkschaft“ – offizielles Mitteilungsblatt des ADGB in Hamburg vom 19. April 1933 (Foto: gemeinfrei)

Integrationsmechanismen und …

Mit dem Übergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium um die Jahrhundertwende fand die Produktivkraftentwicklung vor allem in den Betrieben des Monopolkapitals statt, welche die zur Entwicklung der immer teurer werdenden Maschinerie nötigen Mittel hatten. Dort wurde mit dem generierten Monopolprofit, der in gewissem Maß zur Korrumpierung von Teilen der Klasse verwendet werden konnte, die Gruppe der „Arbeiter-aristokraten“ (Lenin) zur relativ dauerhaften Einrichtung. Sie ist deswegen nur relativ dauerhaft, weil auch das monopolistische Kapital ständig die Senkung des Preises der Ware Arbeitskraft betreibt. Ein Mittel dazu ist die Entwicklung der Produktivkräfte: technisches Know-how von Menschen geht auf die verbesserte Maschinerie über, die dann durch schlechter ausgebildete oder nur angelernte Kräfte bedient werden kann. Lenin analysierte diese Schicht und stellte immer wieder die Aufgabe ihrer Einbindung in die Front der kämpfenden Arbeiterklasse.

Neben dieser Gruppe der Arbeiter-aristokratie in den Betrieben bildete sich in den immer mehr zu Massenorganisationen werdenden Gewerkschaften eine Gruppe von Funktionären heraus, die über eine relativ stabile Stellung verfügte. Die Übernahme hauptamtlicher Funktionen und die Einnahme von bezahlten Vorstandsposten in den Unternehmen und von Plätzen im Parlament sowie die mangelnde Schulung sowohl der Funktionäre wie der einfachen Mitglieder, die unzureichende demokratische Kontrolle und fehlende organisationspolitische Herangehensweisen und Kenntnisse führten zur Entstehung der „Arbeiterbürokratie“. Beide Gruppen waren Ergebnisse kapitalistischer Entwicklung. Aus diesen erwuchs auch ihre Bereitschaft, Frieden mit dem Kapital zu machen. Lenin schrieb in „Der Zusammenbruch der II. Internationale“ dazu, es sei „kein Zufall, keine Sünde, kein Fehltritt, kein Verrat einzelner Personen (…), sondern das soziale Produkt einer ganzen historischen Epoche“.

… Revisionismus

Auf der politisch-ideologischen Ebene fanden die Interessen dieses Teils der Klasse ihren Ausdruck im Revisionismus. Eduard Bernstein, der prominenteste Vertreter dieser Richtung, verflachte den Marxismus zum Moralismus, leugnete seinen wissenschaftlichen Charakter und negierte die Gesetzmäßigkeiten der gesellschaftlichen Entwicklung. Das führte dazu, die besondere Rolle der revolutionären Arbeiterpartei und schließlich auch das Ziel – den Sozialismus – zu negieren: „Die Bewegung ist mir alles, das Ziel nichts.“ In der Gewerkschaftsarbeit schlug sich diese Theorie vor allem als Pragmatismus nieder. Nicht mehr die Organisation der Arbeiter, ihre Ausbildung und Qualifizierung in den „Schulen des Klassenkampfes“ sollten Ziele gewerkschaftlicher Tätigkeit sein. Nicht mehr die Entwicklung von Klassenbewusstsein sowie die politische und ideologische Emanzipation der Arbeiterklasse in und durch die Kämpfe, sondern vor allem die Behebung und Lösung sogenannter „Missstände“ und „Probleme“ – also der allzu üblen Auswüchse des Kapitalismus – wurden in den Mittelpunkt gestellt. Gemeinsam mit dem rechten Flügel der Sozialdemokratie wollte fortan auch der rechte Flügel gewerkschaftlicher Führungsgremien die Arbeiter in einen sozial und demokratisch reformierten – oder nur als solchen verkauften – Kapitalismus einbinden. Diese Orientierung nennen wir Integrationismus.

Weimarer Republik

Die nach der Novemberrevolution nunmehr im bürgerlichen Rahmen ausgeübte Herrschaft der Monopolkapitalisten war für den rechten Flügel der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften „die Demokratie“. Sozialdemokratische Minister befahlen Militär- und Freikorpseinsätze gegen die kämpfenden Arbeiter, Gewerkschaftsführer arbeiteten mit Militär und Großkapital zur „Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung“ zusammen. Bereits im November 1918 schlossen – neben anderen Monopolkapitalisten wie Alfred Hugenberg und Ernst Borsig – der Ruhrindustrielle Hugo Stinnes und der Gewerkschaftsführer Carl Legien das sogenannte „Arbeitsgemeinschafts“-Abkommen. In der entstehenden KPD hatten deswegen linksradikale Strömungen starken Zulauf, die – wie im Protokoll des Gründungsparteitags nachzulesen ist – die Auflösung von Partei und Gewerkschaft und deren Eingehen in eine anarchosyndikalistische „Einheitsorganisation“ forderten. Sie erhielten allerdings nie die Oberhand.

Kampf um die Gewerkschaften

Der Kampf zwischen Reformisten und Revolutionären in der Arbeiterbewegung hatte seine Widerspiegelung innerhalb der Gewerkschaften als Gegensatz zwischen einer Position der Integration und einer solchen des kompromisslosen Kampfes zwischen Kapital und Arbeit – später sollten fortschrittliche Kräfte dies als Konflikt von „Ordnungsfaktor“ und „Gegenmacht“ bezeichnen. Dieser wurde nicht auf der Grundlage besserer Argumente für die Vertretung der Interessen der Arbeiter ausgetragen, sondern von rechter Seite vor allem als brutaler und organisationsschädlicher Machtkampf: Ganze Teile der Gewerkschaften wurden aufgelöst, Revolutionäre in großer Zahl ausgeschlossen, die innergewerkschaftliche Demokratie zum einen einem bürgerlichen Verständnis untergeordnet und zum anderen ausgehöhlt, teilweise abgeschafft.

Krisenhafte Entwicklung oder …

Mit dem Abebben der revolutionären Nachkriegskrise (1918/19 bis 1923) und nachdem dem Kapital die Abwälzung der Kriegslasten auf die Bevölkerung durch eine Hyperinflation gelungen war, setzte ab 1924 eine relative Stabilisierung des Kapitalismus ein. Kommunistische Ökonomen – so in der Sowjetunion Eugen Varga und in Deutschland Jürgen Kuczynski, damals Redakteur der „Roten Fahne“ – erkannten, dass dieser Aufschwung nur kurz, eben „relativ“ sei. Ernst Thälmann entwickelte aufgrund dessen die Erkenntnis, dass die allgemeine Krise und die zyklische Krise einander bedingten und so Erschütterungen, Krisen und die Kriegsgefahr das Bild prägen würden. Dagegen müssten die Kommunisten ihre Organisation so aufstellen, dass sie in den unvermeidlich kommenden Kämpfen die Arbeiter und vermehrt auch die anderen Teile der Volksmassen orientieren und gegen die Monopole und ihren Staat in den Kampf führen könnten.

… „organisierter Kapitalismus?“

Die SPD und an ihrer Seite die rechte Gewerkschaftsführung analysierten hingegen das Abebben der Krise als die Hauptseite der Entwicklung – die Monopole würden den Kapitalismus organisieren und ihn so vor Krisen schützen: Rudolf Hilferding begründete dies 1927 mit seiner These vom „organisierten Kapitalismus“. In dessen Rahmen – so entwickelte er den revisionistischen „Klassiker“ Bernstein weiter – könnten der Kampf um die Demokratie nun fast ausschließlich in den Parlamenten ausgefochten, durch Einflussnahme die ökonomische Situation der Arbeiter verbessert und im Falle eines sozialdemokratischen Wahlsiegs die organisierten Produktivkräfte einfach übernommen werden. Für die Gewerkschaftsarbeit bedeutete diese Orientierung eine erhebliche Schwächung: Betriebliche Strukturen und die Bildungsarbeit wurden abgebaut, Diskussionen und gewerkschaftliche Leitungsarbeit von den Betrieben weg in die „Funktionärsebenen“ verlagert und Kämpfe immer seltener ausgefochten – vielmehr begrüßte man die ersten Zwänge zu Schlichtungen als dem „Wirtschaftsfrieden“ dienend.

Unterordnung auch politisch

Der oben erwähnte Stinnes-Legien-Pakt enthielt die Zusage an das Großkapital, die Revolution nicht zur Sozialisierung der Produktionsmittel zu nutzen, sondern nur zur (bürgerlichen) Demokratisierung. Gegen weitergehende Forderungen der Arbeiter – vor allem ihres revolutionären Teils – wurden auch sozialdemokratische Freikorps gebildet, die unter anderem gegen die junge Sowjetmacht in den Interventionskrieg zogen und an der Niederschlagung des Januar-aufstands 1919 beteiligt waren. 1920 wurden sowohl sozialdemokratische als auch offen rechte, das Hakenkreuz tragende Freikorps in Berlin gegen Großdemonstrationen gegen das Betriebsrätegesetz eingesetzt. Nach der gemeinsamen Niederschlagung des Kapp-Putsches 1920 – in dessen Rahmen diejenigen Truppen, die gerade für den SPD-Reichskanzler Friedrich Ebert und seinen Innenminister Gustav Noske die gegen die Fesselung ihrer Betriebsräte demonstrierenden Arbeiter zusammengeschossen hatten, nun gegen eben diese beiden putschen wollten – billigten SPD- und Gewerkschaftsführung den regelrechten Krieg gegen die klassenbewussten Arbeiter im Ruhrgebiet. Die Gewerkschaften trugen alle diese Schritte, mittels denen die Sozialdemokratie selbst die bürgerliche Demokratie untergrub, mit.

Querfrontversuche

1930 führte das zu Kontakten mit dem Reichswehrgeneral Kurt von Schleicher, der eine Militärdiktatur zur „Rettung des Reiches“ aufrichten wollte und dazu eine von der SPD bis zu Teilen der Nazipartei reichende Massenbasis anstrebte – eine „Querfront“ zur Rettung des Kapitalismus in der Krise. 1932 bandelten einzelne ADGB-Funktionäre mit dem „linken“ Strasser-Flügel der Nazis an. All dies zerstörte die einst mächtigen und bitter nötigen Organisationen der Arbeiterbewegung immer weiter. Der Aufruf des ADGB zum 1. Mai 1933 und seine Zerschlagung am Tag darauf waren der Schlusspunkt dieser Entwicklung.

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"Zwischen Anpassung und Zerschlagung", UZ vom 28. April 2023



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