Vom 17. Bis 19. September fand in Peking das 12. Xiangshan-Forum statt. An der Sicherheitskonferenz in Chinas Hauptstadt nahmen 1.800 Politiker, Diplomaten und Wissenschaftler aus mehr als 100 Ländern teil. Deutsche Regierungsmitglieder waren nicht dabei. Dafür konnte Sevim Dagdelen, Außenpolitikerin des BSW, nicht nur teilnehmen, sondern auch sprechen. In ihrer Rede zum Thema „Der Sieg im weltweiten antifaschistischen Krieg und die internationale Ordnung“ wies Dagdelen die Konfrontations- und Kriegspolitik des Westens zurück und sprach sich für den Aufbau einer multipolaren Weltordnung aus. Wir dokumentieren im Folgenden ihre Rede:
Zunächst möchte ich den Organisatoren herzlich dafür danken, dass ich heute – als Deutsche – zum Thema „Der Sieg im weltweiten antifaschistischen Krieg und die internationale Ordnung“ sprechen darf. Ich weiß, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist. In tiefer Demut verneige ich mich vor den Millionen Opfern des deutschen Faschismus und des Zweiten Weltkriegs.
Die Hohe Repräsentantin der Europäischen Union, Kaja Kallas, erklärte im September 2025, es sei ihr völlig neu, dass sich Russland und China auf eine gemeinsame Vergangenheit als Kämpfer gegen Faschismus und Militarismus im Zweiten Weltkrieg beriefen. Russland und China wollten die Geschichte neu schreiben, und die Welt glaube ihnen, so Kallas. Man könnte diese Aussage einer der ranghöchsten Vertreterinnen der EU als verwirrt und uninformiert abtun. Interessant ist jedoch, dass sie bei den Staats- und Regierungschefs etwa Deutschlands, Frankreichs, Polens und Italiens auf keinerlei Widerspruch stieß. Man muss daher das historische Urteil von Frau Kallas als Ausdruck einer EU-Politik verstehen, die versucht, die Geschichte umzuschreiben, um die Vorbereitung eines Krieges geschichtspolitisch zu flankieren.
Kallas’ Bemerkung erinnert jedenfalls an den Satz des spanisch-amerikanischen Philosophen George Santayana (1863–1952): „Wer sich seiner Vergangenheit nicht erinnert, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.“
Die Rolle der Sowjetunion und Chinas im Zweiten Weltkrieg
Beim Überfall des Dritten Reiches auf die Sowjetunion wurden 27 Millionen Menschen getötet, ein Großteil davon Zivilisten. Beim Angriff des japanischen Militarismus auf China starben 20 Millionen Menschen, darunter 16 Millionen Zivilisten. Die Sowjetunion und China trugen die Hauptlast im Kampf gegen den Antikomintern-Pakt, dem sich 1936 das NS-Regime und das japanische Kaiserreich angeschlossen hatten. Flankiert wurde dieser Pakt vom deutsch-japanischen Geheimabkommen aus dem Jahr 1937. Gemeinsame Planungen der Militärgeheimdienste zielten auf eine Aufteilung Zentralasiens und des Kaukasus in eine deutsche und eine japanische Interessensphäre. Was die Sowjetunion betraf, existierten darüber hinaus gemeinsame Aufteilungspläne, die auf die Schaffung von Kolonien mit Hilfe separatistischer und faschistischer Milizen im Kaukasus und in der Ukraine abzielten.
Bei den vermittelten neuen Geschichtsbildern ist die schlichte Negation der Geschichte Mittel zum Zweck – eine Negation, die nicht nur die Verbrechen des NS-Regimes und des japanischen Militarismus vergessen machen soll, sondern vor allem darauf zielt, die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs zu revidieren.
Vom Potsdamer Abkommen zur multipolaren Welt
Vor 80 Jahren einigten sich im Schloss Cecilienhof bei Potsdam US-Präsident Harry S. Truman, der britische Premierminister Winston Churchill und der Vorsitzende des Rates der Volkskommissare der Sowjetunion, Josef Stalin, auf das Potsdamer Abkommen. In dessen Folge wurden die Vereinten Nationen gegründet.
Deutschland und Japan hatten versucht, mit ihren imperialistischen Raubkriegen die Sowjetunion und China zu unterwerfen und die Länder zu zerteilen. Beide Mächte scheiterten am erbitterten antifaschistischen Widerstand.
Auf den Trümmern des Zerstörungswerks des Dritten Reiches und des japanischen Imperiums sollte eine multipolare Welt entstehen, nicht zuletzt geprägt vom nationalen Befreiungskampf der kolonialisierten Länder.
Bereits mit dem Atombombenabwurf auf Hiroshima und Nagasaki jedoch unternahm die US-Führung den Versuch, die einstigen Alliierten einzuschüchtern und mit einer „atomaren Diplomatie“ eine eigene Hegemonie zu errichten.
Der Westen als unfreiwilliger Geburtshelfer
Am Ende des Kalten Krieges schien dieses Kalkül aufgegangen zu sein, und siegessicher sprach man nun von der einzig verbliebenen Weltmacht und dem „Ende der Geschichte“. In diesen Tagen jedoch ist von diesem damaligen Optimismus der NATO wenig übrig geblieben. Das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Rahmen der Shanghai-Kooperationsorganisation (SCO) wurde von den westlichen Eliten mit Schock aufgenommen. Denn jetzt zeichnet sich genau jene multipolare Welt ab, deren Verhinderung die eigene geopolitische Agenda über Jahrzehnte bestimmt hatte.
Wie Zauberlehrlinge, denen die Machtinstrumente entgleiten, haben US-Präsident Donald Trump mit seinen Strafzöllen gegen Indien und – mit Abstrichen – auch der deutsche Bundeskanzler Friedrich Merz mit dem Abschluss des deutsch-japanischen Rüstungsabkommens der Welt offenbart, dass ein Abschied vom Kolonialismus nur gegen den Westen und seine führenden Mächte zu erreichen ist.
So war und ist der Westen der unfreiwillige Geburtshelfer einer neuen Weltepoche. Das entsprechende deutsch-japanische Geheimschutzabkommen im militärischen Bereich war bereits 2021 unterzeichnet worden. Jetzt, nach dem Besuch des deutschen Außenministers Johann Wadephul in Japan im August 2025, soll die militärische Zusammenarbeit beider Länder etwa durch die Entwicklung der deutschen Lenkwaffe „Taurus“ durch japanische Unternehmen für den Antrieb des Waffensystems massiv intensiviert werden.
Die Rückkehr des Kolonialismus in neuer Form
Wer allerdings glaubt, dass diese Rückschläge eine Umkehr im Westen befördern könnten, sieht sich getäuscht. US-Präsident Donald Trump versucht nun, alle NATO-Staaten in eine Welthandelskriegsallianz gegen China einzubinden – mit dem Ziel, dass Handelspartner wie Deutschland Strafzölle gegen Peking und Neu-Delhi in Höhe von 50 bis 100 Prozent verhängen.
Die Stellvertreterkriege des Westens im Nahen Osten und in der Ukraine dauern an. Trotz des Völkermords in Gaza und der Flucht von Hunderttausenden ukrainischen Soldaten vom Schlachtfeld, setzt die NATO ihre Unterstützung für die extremistische israelische Regierung und das ultranationalistische Regime in Kiew fort.
Der Vorwand für die Sekundärsanktionen ist, Russland treffen zu wollen – das eigentliche Ziel ist jedoch die Durchsetzung einer kolonialen Weltordnung. So wie Trump hier versucht, die NATO gegen China in Stellung zu bringen, spiegelt sich dies auch im militärischen Bereich wider: China ist seit dem NATO-Gipfel im Juni in Den Haag offiziell ins Fadenkreuz des Militärpakts geraten.
Über bilaterale Militärabkommen von NATO-Mitgliedstaaten mit asiatischen Ländern und Australien wird versucht, Frontstaaten zu schaffen, die auch Konflikte provozieren können. Deutschland ist dabei eines der Länder, die neben den USA vorangehen – durch Abkommen mit Japan, den Philippinen und eine strategische Partnerschaft mit Singapur.
Realitätsverweigerung und Machtverlust
Wenn Historiker später auf diese Zeit zurückblicken, werden sie sich wohl verwundert die Augen reiben, wie zielsicher der Westen durch Handels- und Stellvertreterkriege die eigenen Interessen beschädigt und zugleich verzweifelt versucht hat, anderen Ländern – wie etwa Indien – seinen Willen aufzuzwingen. Wer aber bestimmen will, welches Land mit wem Handel treiben darf, muss sich den Vorwurf des Kolonialismus zu Recht gefallen lassen. Es ist eine Geisteshaltung, die an die ungleichen Verträge des 19. Jahrhunderts erinnert. Zugleich ist sie Ausdruck einer rückwärtsgewandten Politik, denn die globalen Kräfteverhältnisse haben sich grundlegend verändert.
Weder China noch Russland oder Indien lassen sich ihre Politik länger von Washington, Brüssel, Berlin oder Tokio diktieren. Den Aufstieg des Globalen Südens hat der Westen schlicht verpasst.
Darin steckt natürlich auch etwas zutiefst Irrationales – und zugleich ein Stück gefährlicher Realitätsverweigerung. Denn anstatt gemeinsam an einer multipolaren Welt zu arbeiten und sich an die Gründungsidee der Vereinten Nationen zu erinnern, gibt man sich der Illusion hin, man könne zurückkehren zu einer Politik der Zersetzung und Aufteilung – und „Russland ruinieren“, wie es die frühere deutsche Außenministerin Annalena Baerbock so unfreiwillig treffend formulierte.
Die Verantwortung für eine multipolare Welt
Es gibt daher mehr denn je eine gemeinsame Verantwortung, für die Gleichheit souveräner Staaten in dieser Welt und für die Gestaltung einer multipolaren Ordnung einzutreten. In dieser Welt ist sicher für vieles Platz – nicht aber für die Politik eines rückwärtsgewandten, nostalgischen Kolonialismus.
Wer allerdings erwartet, die USA würden sich freiwillig vom Konzept globaler Hegemonie verabschieden – angesichts der Pläne, US-Truppen verstärkt auf dem amerikanischen Kontinent zu stationieren, könnte sich getäuscht sehen. Alles deutet auf eine Rückkehr des Westens zu einer Strategie des Kalten Krieges hin: eine Strategie des Rollback, mit neuen Prioritäten in den Weltregionen. Lateinamerika und eine vorgestellte westliche Hemisphäre scheinen der erste Fokus der USA zu sein, während in Asien, im Nahen Osten und in Europa Washingtons Verbündete in die erste Reihe gestellt werden sollen, um US-Ressourcen zu schonen.
Dies erinnert unfreiwillig an das Wort von Mao Tse-tung: „Das Hauptbollwerk des modernen Kolonialismus sind die Vereinigten Staaten von Amerika.“
Das Entstehen aber einer multipolaren Welt ist unumkehrbar. Wichtig sind dabei immer mehr Partnerschaften für gegenseitige Sicherheit und die friedliche Entwicklung zum Nutzen aller. Wir haben eine gerechte Welt zu gewinnen. Wir sollten diese Chance nutzen.